Der in Deutschland geltende Gewaltenteilungsgrundsatz funktioniert so, dass die Legislative, also der Bundestag und die Landesparlamente, Gesetz erlassen, die Exekutive, also die Bundesregierung und die Landesregierungen, die Gesetze vollziehen und die Judikative, also die Rechtsprechung, nach prüft, ob der Vollzug auch ordnungsgemäß erfolgt ist. Dieser seit Geltung des Gesetzes bewehrte Grundsatz wird seit vor rund einem Jahr der 1. Corona Fall in Deutschland festgestellt worden ist, immer wieder aufs Neue einer Bewährungsprobe unterzogen. Dies deshalb, weil doch leicht der Eindruck entstehen kann, dass die Legislative sich mit einer Rolle als Zuschauer zufrieden gibt, werde die Exekutive nach eigenem Gutdünken schaltet und waltet und die Judikative, so sich denn zu einzelnen Maßnahmen ein Kläger findet, nicht immer ihre Aufgabe gerecht wird und bitte doch zum Teil recht konstruiert wirkenden Begründungen die Beschneidung fundamentaler Grundrechte mündiger Staatsbürger toleriert. Von daher lässt derzeit ein Urteil eines (mutigen) Amtsrichters aus Weimar vom 11.01.2021 (6 OWi – 523 Js 202518/20) auf aufhorchen, der im Rahmen eines Ordnungswidrigkeitenverfahren, in dem es so sicher wie das Amen in der Kirche war, dass die Betroffene, der im April gegen das vom Land Thüringen verhängte Kontaktverbot Verstoß hatte, verurteilt wird, diesen nicht verurteilt, sondern freigesprochen hat, weil er die landesrechtliche Verordnung für verfassungswidrig hielt und sie deshalb, trotz unstreitig vorhandenem formellen Verstoß, kurzerhand verworfen, also nicht angewendet hat. Damit aber nicht genug. Er hatte sein Urteil auch gleich zum Anlass genommen, um in seiner 19-seitigen Urteilsbegründung quasi die Coronapolitik auf die Anklagebank zu setzen und diese ein vernichtendes Urteil zu erteilen.
Geburtstagsfeier landet vor Gericht
Das Verfahren begann, wie derzeit viele Verfahren beginnen, nämlich damit, dass der Betroffene, so nennt man Personen, denen eine Ordnungswidrigkeit vorgeworfen wird, sich am 24.04.2020 in den Abendstunden zusammen mit mindestens sieben weiteren Personen im Hinterhof des Hauses X-Straße 1 in W. aufhielt, um den Geburtstag eines der Beteiligten zu feiern. Die insgesamt acht Beteiligten verteilten sich auf sieben verschiedene Haushalte.
Vor Gericht war deshalb gelandet, weil dieses Verhalten gegen § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 der Dritten Thüringer Verordnung über erforderliche Maßnahmen zur Eindämmung der Ausbreitung des Coronavirus SARS-CoV-2 (3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) vom 18.04.2020 in der Fassung vom 23.04.2020 verstoßen hat.
Diese Vorschriften haben folgenden Wortlaut:
§ 2 Abs. 1: Der Aufenthalt im öffentlichen Raum ist nur allein, im Kreise der Angehörigen des eigenen Haushalts und zusätzlich höchstens mit einer weiteren haushaltsfremden Person gestattet.
§ 3 Abs. 1: Veranstaltungen, Versammlungen im Sinne des § 1 des Versammlungsgesetzes in der Fassung vom 15. November 1978 (BGBl. I S. 1789) in der jeweils geltenden Fassung, Demonstrationen, Ansammlungen und sonstige Zusammenkünfte mit mehr als zwei Personen sind verboten mit der Ausnahme, dass es sich um Angehörige des eigenen Haushalts handelt und zusätzlich höchstens eine haushaltsfremde Person hinzukommt. Dies gilt auch für Zusammenkünfte in Kirchengebäuden, Moscheen und Synagogen sowie in Kulträumen anderer Religionsgesellschaften und Weltanschauungsgemeinschaften.
§ 2 Abs. 2 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO regelte Ausnahmen vom Verbot nach § 2 Abs. 1 für die Berichterstattung durch Medienvertreter, die Ausübung bestimmter beruflicher Tätigkeiten im Freien und die Benutzung des öffentlichen Personennahverkehrs und von Kraftfahrzeugen, § 3 Abs. 2-4 regelten Ausnahmen vom Verbot nach § 3 Abs. 1 für bestimmte Arten von Veranstaltungen, (öffentliche) Versammlungen in geschlossenen Räumen und unter freiem Himmel, Gottesdienste und sonstige religiöse Zusammenkünfte, Trauerfeiern und Eheschließungen. Keine dieser Ausnahmen ist vorliegend einschlägig.
Freispruch trotz Verstoß gegen einschlägige Coronaschutzverordnung
Zunächst stellte das Gericht fest, dass das Verhalten des Betroffenen zwar einen Verstoß gegen die Verordnung und damit eine Ordnungswidrigkeit gem. § 14 Abs. 3 Nr. 2 und Nr. 3 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO i. V. m. § 73 Abs. 1a Nr. 24 i. V. m. § 32 Satz 1 IfSG darstellt.
Gleichwohl hat ihn der Richter dann freigesprochen, denn nach seiner Auffassung sind die Regelungen in § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO verfassungswidrig und damit nichtig.
Infektionsschutzgesetz keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage
Zunächst hat das Gericht die Verordnung bereits aus formellen Gründen gekippt, weil nach seiner Auffassung § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO tief in die Grundrechte eingreifenden Regelungen enthalten, die von der gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage im Infektionsschutzgesetz nicht gedeckt sind. Das Gericht hat dabei sehr umfangreich seine Argumentation dargelegt, warum dies nach seiner Auffassung so ist und zur Begründung ausgeführt:
„1. Gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 1 GG kann die Exekutive durch ein Gesetz ermächtigt werden, Rechtsverordnungen zu erlassen. Dabei müssen gemäß Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG Inhalt, Zweck und Ausmaß der erteilten Ermächtigung im Gesetz bestimmt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat die sich daraus ergebenden Anforderungen an ein ermächtigendes Gesetz in ständiger Rechtsprechung mit drei sich gegenseitig ergänzenden Konkretisierungsformeln, der sog. Selbstentscheidungsformel (der Gesetzgeber hat selbst die Entscheidung darüber zu treffen, welche Fragen durch die Rechtsverordnung geregelt werden sollen, welche Grenzen der Normierung gesetzt sind und welchem Ziel sie dienen soll; BVerfGE 2, 307 (334)), der Programmformel (anhand des Gesetzes muss sich bestimmen lassen, welches gesetzgeberische Programm verordnungsrechtlich umgesetzt werden soll; BVerfGE 5, 71 (77)) und der Vorhersehbarkeitsformel (der Bürger muss dem ermächtigenden Gesetz entnehmen können, in welchen Fällen und mit welcher Tendenz von der Ermächtigung Gebrach gemacht wird und welchen Inhalt die Rechtsverordnung haben wird; BVerfGE 56, 1 (12)) näher expliziert. Darüber hinaus hat es zur Frage des Grades der Bestimmtheit der Ermächtigung die sog. Wesentlichkeitslehre entwickelt. Nach der Wesentlichkeitslehre muss der Gesetzgeber in grundlegenden normativen Bereichen, zumal im Bereich der Grundrechtsausübung – soweit diese staatlicher Regelung überhaupt zugänglich ist – alle wesentlichen Entscheidungen selbst treffen und darf diese nicht an die Exekutive delegieren (BVerfGE 142, 1 (109); BVerfGE 98, 218 (251); BVerfGE 116, 24 (58)). Je wesentlicher Rechtsverordnungen oder andere Rechtsakte der Exekutive in Grundrechte eingreifen, umso genauer und intensiver müssen die Regelungen des ermächtigenden Gesetzes sein. Das Bundesverfassungsgericht sieht dabei die Anforderungen von Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG und der Wesentlichkeitslehre als deckungsgleich an (BVerfGE 150, 1 (100)). Ist im Hinblick auf bestimmte Normen einer Rechtsverordnung den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre durch das ermächtigende Gesetz nicht Genüge getan, führt dies zur Verfassungswidrigkeit der Normen der Verordnung (BVerfGE 150, 1 (209) BVerfGE 136, 69 (92)).
Rechtsgrundlage für das hier zur Rede stehende sog. allgemeine Kontaktverbot ist § 32 IfSG i. V. m. § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG in der Fassung vom 27.03.2020. Auf die Generalklausel des § 28 Abs. 1 Satz 1 IfSG muss insoweit nicht zurückgegriffen werden (vgl. Kießling/Kießling IfSG, § 28 Rn. 35, 44).
§ 28 Abs. 1 Satz 1 und 2 IfSG in der Fassung vom 27.03.2020 lauten:
(Satz 1) Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten. (Satz 2) Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen.“
Da unter „Ansammlungen von Menschen“ Personenmehrheiten von mindestens drei Personen mit einem inneren Bezug oder einer äußeren Verklammerung zu verstehen sind (Kießling, aaO, Rn. 38f), lassen sich § 2 Abs. 1 und das Ansammlungsverbot des § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO zwar unter den Wortlaut von § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG subsumieren, für eine eingriffsintensive Maßnahme wie ein allgemeines Kontaktverbot ist § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG aber keine den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre genügende Ermächtigungsgrundlage. Ein allgemeines Kontaktverbot stellt zumindest – die Frage der Betroffenheit der Menschenwürdegarantie muss an dieser Stelle zurückgestellt werden und wird unter IV. erörtert – einen schweren Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG, darüber hinaus aber auch in die Versammlungs-, Vereinigungs-, Religions-, Berufs- und Kunstfreiheit dar, nicht nur, weil es alle Bürger adressiert und zwar unabhängig von der Frage, ob sie Krankheits- oder Ansteckungsverdächtige i. S. v. § 28 Abs. 1 S. 1 IfSG sind oder nicht. Indem allen Bürgern untersagt wird, mit mehr als einer haushaltsfremden Person zusammenzukommen, wobei dies vorliegend nicht nur für den öffentlichen Raum (§ 2 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO), sondern gem. § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO auch für den privaten Raum galt, sind die Freiheitsrechte im Kern betroffen. Das allgemeine Kontaktverbot zieht dabei zwangsläufig weitere Grundrechtseinschränkungen nach sich. So ist es nur logisch folgerichtig, dass unter der Geltung eines allgemeinen Kontaktverbotes Einrichtungen aller Art (§ 5 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO), Einzelhandelsgeschäfte, Beherbergungsbetriebe (§ 6 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) und Gastronomiebetriebe (§ 7 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO) ebenfalls geschlossen oder jedenfalls beschränkt werden.
Der Gesetzgeber hatte als Eingriffsvoraussetzung für ein allgemeines Kontaktverbot vor der Schaffung von § 28a IfSG mit Gesetz vom 18.11.2020 lediglich in § 28 Abs. 1 IfSG bestimmt, dass Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige etc. einer übertragbaren Krankheit festgestellt wurden und dass die Maßnahme nur „soweit und solange es zur Verhinderung der Krankheitsverbreitung erforderlich ist“, getroffen werden darf, wobei letzteres nicht mehr als ein expliziter Verweis auf das ohnehin geltende Verhältnismäßigkeitsprinzip ist. Damit sind nur absolute Minimalvoraussetzungen geregelt. Das Gesetz kann in dieser Form nur Einzelmaßnahmen wie z.B. die in § 28 Abs. 1 Satz 2 IfSG genannte Schließung von (einzelnen) Badeanstalten tragen, nicht aber ein allgemeines Kontaktverbot. Soweit ein allgemeines Kontaktverbot überhaupt verfassungskonform sein kann (dazu näher unter IV. und V.), wäre dafür zumindest eine präzise Regelung der Anordnungsvoraussetzungen im Sinne einer genauen Konkretisierung der erforderlichen Gefahrenlage zu fordern, aber auch auf der Rechtsfolgenseite wären konkretisierende Regelungen notwendig (vgl. Kießling, aaO Rn. 63; Papier, Freiheitsrechte in Zeiten der Pandemie, DRiZ, 2020, 180; Bäcker, Corona in Karlsruhe, VerfBlog v. 25.03.2020, https://verfassungsblog.de/corona-in-karlsruhe-ii/; Möllers, Parlamentarische Selbstentmächtigung im Zeichen des Virus, VerfBlog v. 26.03.2020, https://verfassungsblog.de/parlamentarischeselbstentmaechtigung-im-zeichen-des-virus/).
2. Dass § 28 IfSG hinsichtlich der tiefgreifenden Grundrechtseingriffe einschließlich eines Kontaktverbots durch die verschiedenen Corona-Verordnungen der Länder jedenfalls im Grundsatz nicht den Anforderungen der Wesentlichkeitsdoktrin genügt, ist in Rechtsprechung und Literatur inzwischen weitgehend Konsens. Der Gesetzgeber hat darauf zwischenzeitlich auch mit der Einfügung von § 28a IfSG zu reagieren versucht. Die Rechtsprechung hat aber, um einer sonst unvermeidlichen Verwerfung der Verordnungen zu entgehen, vielfach darauf verwiesen, dass anerkannt sei, dass es im Rahmen unvorhergesehener Entwicklungen aus übergeordneten Gründen des Gemeinwohls geboten sein könne, nicht hinnehmbare gravierende Regelungslücken für einen Übergangszeitraum auf der Grundlage von Generalklauseln zu schließen und auf diese Weise selbst sehr eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürften, vorübergehend zu ermöglichen (exemplarisch: OVG NRW, Beschluss vom 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 59 unter Berufung auf OVG NRW, Urteil vom 5. Juli 2013 – 5 A 607/11 juris, Rn. 97 ff.; Saarl. OVG, Urteil vom 6. September 2013 – 3 A 13/13 -, juris, Rn. 77 ff.; VGH Bad.-Württ., Urteil vom 22. Juli 2004 – 1 S 2801/03 juris, Rn. 30; BVerfG, Beschluss vom 8. November 2012 – 1 BvR 22/12 -, juris, Rn. 25; BVerwG, Beschluss vom 31. Januar 2019 – 1 WB 28.17 – juris, Rn. 35; Bethge, Ausgangssperre, VerfBlog v. 24.03.2020). Diese Voraussetzungen lägen vor, da es sich bei der Corona-Pandemie um ein derart beispielloses Ereignis handele, dass vom Gesetzgeber nicht verlangt werden könnte, die erforderlichen Regelungen bereits im Voraus getroffen zu haben. Es bestehe auch ein dringender Handlungsbedarf, der zur Schließung gravierender, bei einer Abwägung der gegenläufigen verfassungsrechtlichen Positionen nicht mehr vertretbarer Schutzlücken den vorübergehenden Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel gebieten würde (OVG NRW, Beschluss vom 06.04.2020 – 13 B 398/20.NE -, juris, Rn. 61).
Je länger die Freiheitsbeschränkungen in der Corona-Krise andauerten, wurde in der Rechtsprechung zunehmend die Frage diskutiert, ob der „Übergangszeitraum“ nicht bereits abgelaufen sei [vgl. etwa BayVGH, Beschluss vom 29.10.2020 – 20 NE 20.2360 -, juris, der dieser Frage breiten Raum widmet und sie an einer Stelle zumindest implizit bereits bejaht (Rn. 30): „Bis zu welchem Ausmaß und für welchen Zeitraum die §§ 32, 28 IfSG möglicherweise noch ausreichend waren, um die mit einer bislang nicht dagewesenen Pandemie … entstandene Gefahrenlage zu bewältigen, bedarf an dieser Stelle keiner abschließenden Entscheidung …“ (Hervorhebung hinzugefügt), um dann mit dem Argument, dass der Bayerische Landtag die Staatsregierung mittlerweile aufgefordert habe, sich für die Schaffung konkreter Befugnisnormen im IfSG einzusetzen, am Ende die Frage doch wieder in die Schwebe zu bringen und von einer Verwerfung der angegriffenen Norm abzusehen.]
3. Es kann hier dahinstehen, ob die damit vorgenommene Relativierung der Geltung der Wesentlichkeitslehre mit der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts in Einklang zu bringen ist (ablehnend etwa Möllers, aaO: „Sollten wir aus der Krise mit der Einsicht herausgehen, dass fundamentale Normen der Arbeitsteilung zwischen Parlament und Regierung … befristet unter einem ungeschriebenen verfassungsrechtlichen Notstandsvorbehalt stehen, wäre das fatal.“), es soll diesbezüglich lediglich noch darauf hingewiesen werden, dass die einzige in diesem Zusammenhang zitierte Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, der Beschluss vom 08.11.2012 – 1 BvR 22/12 -, kaum als Beleg angeführt werden kann, da in dieser Entscheidung lediglich unbeanstandet gelassen wurde, dass die Untergerichte die polizeiliche Generalklausel in einem Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes als noch ausreichende Rechtsgrundlage für eine Maßnahme, die möglicherweise einer detaillierten Ermächtigungsgrundlage bedurft hätte, angesehen haben, die Entscheidung über die Frage der Rechtsgrundlage somit in das Hauptsacheverfahren verlagert wurde. Dass gesetzliche Regelungslücken von der Exekutive unter bestimmten Bedingungen durch die Anwendung von Generalklauseln geschlossen werden könnten und insoweit die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre vorübergehend suspendiert seien, ist damit in dieser Entscheidung nicht gesagt.
Soweit eingriffsintensive Maßnahmen, die an sich einer besonderen Regelung bedürften, unter Rückgriff auf Generalklauseln nur im Rahmen „unvorhergesehener Entwicklungen“ zulässig sein sollen, ist diese Voraussetzung vorliegend nicht erfüllt. Bereits im Jahr 2013 lag dem Bundestag eine unter Mitarbeit des Robert Koch-Instituts erstellte Risikoanalyse zu einer Pandemie durch einen „Virus Modi-SARS“ vor, in der ein Szenario mit 7,5 Millionen (!) Toten in Deutschland in einem Zeitraum von drei Jahren beschrieben und antiepidemische Maßnahmen in einer solchen Pandemie diskutiert wurden (Bundestagsdrucksache 17/12051). Der Gesetzgeber hätte daher im Hinblick auf ein solches Ereignis, das zumindest für „bedingt wahrscheinlich“ (Eintrittswahrscheinlichkeit Klasse C) gehalten wurde, die Regelungen des Infektionsschutzgesetzes prüfen und ggf. anpassen können.
Hinzu kommt – und dieses Argument ist gewichtiger –, dass am 18.04.2020, dem Tag des Erlasses der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO, weder in Deutschland im Ganzen betrachtet, noch in Thüringen eine epidemische Lage bestand, angesichts derer es ohne die Ergreifung von einschneidenden Maßnahmen durch die Exekutive unter Rückgriff auf die infektionsschutzrechtliche Generalklausel bzw. die (den Anforderungen der Wesentlichkeitslehre ebenfalls nicht genügenden) Spezialermächtigungen des § 28 Abs. 1 S. 2 IfSG zu „nicht mehr vertretbaren Schutzlücken“ gekommen wäre. Es gab keine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ (§ 5 Abs. 1 IfSG), wenngleich dies der Bundestag mit Wirkung ab 28.03.2020 festgestellt hat.
Diese Einschätzung ergibt sich bereits allein aus den veröffentlichten Daten des Robert Koch-Instituts:
– Der Höhepunkt der COVID-19-Neuerkrankungen (Erkrankungsbeginn = Beginn der klinischen Symptome) war bereits am 18.03.2020 erreicht. Dies ergibt sich aus einer Grafik, die seit dem 15.04.2020 täglich in den Situationsberichten des Robert Koch-Instituts veröffentlicht wurde und die den zeitlichen Verlauf der Neuerkrankungen zeigt (z.B. Lagebericht vom 16.04.2020, S. 6, Abb. 6). Bringt man hier noch die laut Robert Koch-Institut durchschnittliche Inkubationszeit von 5 Tagen in Abzug, ergibt sich als Tag des Höhepunktes der Neuinfektionen der 13.03.2020. Zum Zeitpunkt des Beginns des Lockdowns am 22.03.2020 sank damit die Zahl der Neuinfektionen bereits seit 10 Tagen. Einschränkend ist lediglich zu bemerken, dass die Ermittlung des Verlaufs der Neuerkrankungen durch das Robert Koch-Institut insoweit mit einer Unsicherheit behaftet ist, als sie allein auf den gemeldeten Positivtests (und dem dabei entweder mit gemeldeten Erkrankungsbeginn bzw. – soweit nicht bekannt – dem geschätzten Erkrankungsbeginn) beruht und die Zahl der durchgeführten Tests nicht konstant war. Da aber von der 11. Kalenderwoche (09.-15.03.) bis zur 14. Kalenderwoche die wöchentlichen Testzahlen gesteigert wurden – von der 11. auf die 12. Kalenderwoche sprunghaft, danach nur noch mäßig – wäre für den Peak der Kurve der Neuerkrankungen eine zeitliche Verzerrung nach hinten zu erwarten, er wäre somit „verspätet“ registriert worden und könnte in Wirklichkeit noch etwas vor dem 18.03.2020 gelegen haben. Dies kann hier aber dahingestellt bleiben, da es die vorliegende Argumentation nur noch verstärken würde.
– Vor dem Lockdown gab es dementsprechend auch keine exponentielle Steigerung der Neuinfektionen. Zwar stieg die Zahl der Positivtests von 7.582 in der 11. Kalenderwoche (09.-15.03.) auf 23.820 in der 12. Kalenderwoche (16.-22.03.) und damit um 214 %, dieser Anstieg war aber vor allem auf eine Steigerung der Testzahlen von 127.457 (11. KW) um 173 % auf 348.619 (12. KW) zurückzuführen (Lagebericht vom 15.04.2020, Tabelle 4, S. 8). Der Anteil der Positivtests an den Gesamttests (sog. Positivenquote) stieg nur von 5,9% auf 6,8%, was einer Steigerung um lediglich 15% entspricht.
– Wie sich aus dem Epidemiologischen Bulletin 17/2020 des Robert Koch-Instituts, veröffentlicht am 15.04.2020, ergibt, sank die effektive Reproduktionszahl R nach den Berechnungen des RKI bereits am 21.03.2020 unter den Wert 1 (https://edoc.rki.de/bitstream/handle/176904/6650.2/17_2020_2.Artikel.pdf?sequence=3&isAllowed=y) und blieb dann mit kleineren Schwankungen ungefähr bei 1. Da nach den Erläuterungen des Robert Koch-Instituts (Erläuterung der Schätzung der zeitlich variierenden Reproduktionszahl R, https://www.rki.de/DE/Content/InfAZ/N/Neuartiges_Coronavirus/Projekte_RKI/R-Wert-Erlaeuterung.pdf?__blob=publicationFile) die an einem bestimmten Tag berichtete Reproduktionszahl die Neuinfektionen im Zeitraum 13 bis 8 Tage vor diesem Tag beschreibt, ist diese Zeitverzögerung noch in Abzug zu bringen, so dass danach der R-Wert (bei einer Korrektur um 10 Tage) bereits am 11. März unter 1 lag, was obigem Befund zum Höhepunkt der Neuinfektionen entspricht (vgl. Kuhbandner, Warum die Wirksamkeit des Lockdowns wissenschaftlich nicht bewiesen ist, https://www.heise.de/tp/features/Warum-die-Wirksamkeit-des-Lockdowns-wissenschaftlich-nicht-bewiesen-ist-4992909.html?seite=all.)
– Da die Zahl der Neuinfektionen bereits seit Mitte März rückläufig war, ist es nicht überraschend, dass in Deutschland zu keinem Zeitpunkt im Frühjahr 2020 eine konkrete Gefahr der Überlastung des Gesundheitssystems durch eine „Welle“ von COVID-19-Patienten bestand. Wie sich dem am 17.03.2020 neuetablierten DIVI-Intensivregister entnehmen lässt, waren im März und April in Deutschland durchgehend mindestens 40% der Intensivbetten frei. In Thüringen wurden am 03.04.2020 378 Intensivbetten als belegt gemeldet, davon 36 mit COVID-19-Patienten. Dem standen 417 (!) freie Betten gegenüber. Am 16.04.2020, also zwei Tage vor dem Erlass der Verordnung wurden 501 Intensivbetten als belegt gemeldet, davon 56 mit COVID-19-Patienten. Dem standen 528 (!) freie Betten gegenüber (https://www.intensivregister.de/#/aktuelle-lage/zeitreihen Die Zunahme der Gesamtbettenzahl ist dadurch zu erklären, dass anfangs nicht alle Kliniken an das DIVI-Intensivregister meldeten, erst ab dem 25. April kann von einer Meldung nahezu aller Kliniken ausgegangen werden.) Die Höchstzahl der gemeldeten COVID-19- Patienten betrug in Thüringen im Frühjahr 63 (28. April), die Zahl der COVID-19-Patienten lag damit zu keinem Zeitpunkt in einem Bereich, bei dem eine Überlastung des Gesundheitssystems zu befürchten gewesen wäre.
– Diese Einschätzung der tatsächlichen Gefahren durch COVID-19 im Frühjahr 2020 wird bestätigt durch eine Auswertung von Abrechnungsdaten von 421 Kliniken der Initiative Qualitätsmedizin (https://www.initiative-qualitaetsmedizin.de/effekte-der-sars-cov-2-pandemie-auf-die-stationaere-versorgung-im-ersten-halbjahr-2020), die zu dem Ergebnis kam, dass die Zahl der in Deutschland im ersten Halbjahr 2020 stationär behandelten SARI-Fälle (SARI = severe acute respiratory infection = schwere Atemwegserkrankungen) mit insgesamt 187.174 Fällen sogar niedriger lag als im ersten Halbjahr 2019 (221.841 Fälle), obwohl darin auch die COVID bedingten SARI-Fälle mit eingeschlossen waren. Auch die Zahl der Intensivfälle und der Beatmungsfälle lag nach dieser Analyse im ersten Halbjahr 2020 niedriger als in 2019.
– Auch die Sterbestatistik unterstützt diesen Befund. Laut Sonderauswertung des Statistischen Bundesamts (https://www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Bevoelkerung/Sterbefaelle-Lebenserwartung/Tabellen/sonderauswertung-sterbefaelle.html?nn=209016) starben im ersten Halbjahr 2020 in Deutschland 484.429 Menschen, im ersten Halbjahr 2019 waren es 479.415, 2018 501.391, 2017 488.147 und 2016 461.055 Menschen. Sowohl 2017 als auch 2018 gab es danach im ersten Halbjahr mehr Todesfälle als in 2020 (für die weitere Entwicklung vgl. den CoDAG-Bericht Nr. 4 des Instituts für Statistik der Ludwig-Maximilians-Universität München vom 11.12.2020, https://www.covid19.statistik.uni-muenchen.de/pdfs/bericht-4.pdf).
– Die Schreckenszenarien, die im Frühjahr die Entscheidung über den Lockdown maßgeblich beeinflussten (dazu näher unter V.1.), beruhten auch auf falschen Annahmen zur Letalität des Virus (sog. infection fatality rate = IFR) und zur Frage einer bereits vorhandenen bzw. fehlenden Grundimmunität gegen das Virus in der Bevölkerung. Die Kontagiosität wurde dagegen von Anfang nicht als dramatisch höher beurteilt als bei einem Influenzavirus (das Robert Koch-Institut gibt die Basisreproduktionszahl R0 von SARS-CoV-2 mit 3,3 – 3,8 an, bei Influenza liegt sie nach den meisten Angaben bei 1 – 3, bei Masern bei 12 – 18). Die Letalität beträgt nach einer Metastudie des Medizinwissenschaftlers und Statistikers John Ioannidis, eines der meistzitierten Wissenschaftler weltweit, die im Oktober in einem Bulletin der WHO veröffentlicht wurde, im Median 0,27%, korrigiert 0,23 % und liegt damit nicht höher als bei mittelschweren Influenzaepidemien (https://www.who.int/bulletin/online_first/BLT.20.265892.pdf). Der Altersmedian der an oder mit SARS-CoV-2 Verstorbenen beträgt in Deutschland 84 Jahre (vgl. Situationsbericht des RKI vom 05.01.2021, S. 8). Und entgegen den ursprünglichen Annahmen, die von einer fehlenden Immunität gegen das „neuartige“ Virus ausgingen, weshalb zum Erreichen einer Herdenimmunität 60-70% Bevölkerung infiziert werden müssten, gibt es bei bis zu 50% der Bevölkerung, die nicht SARS-CoV-2 exponiert waren, bereits eine Grundimmunität durch kreuzreaktive T-Zellen, die durch Infektionen mit früheren Corona-Viren entstanden sind (Doshi, Covid-19: Do many people have pre-existing immunity?, https://www.bmj.com/content/370/bmj.m3563, dazu auch: SARS-CoV-2: Ist die Grundimmunität größer als angenommen?, DAZ.online vom 14.10.2020, https://www.deutsche-apotheker-zeitung.de/news/artikel/2020/10/14/sars-cov-2-ist-die-grundimmunitaet-hoeher-als-angenommen).
Da nach allem keine Situation bestand, die ohne einschneidende Maßnahmen zu „unvertretbaren Schutzlücken“ geführt hätte, sind § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO auch wenn man der Rechtsauffassung folgt, dass in einer solchen Situation ein Rückgriff auf Generalklauseln verfassungsgemäß ist, wegen Verstoßes gegen die Anforderungen der Wesentlichkeitslehre verfassungswidrig.“
Allgemeines Kontaktverbot bzw. Ansammlungsverbot verletzen die Menschenwürde
Auch, wenn bereits die vorgenannte Argumentation dazu ausgereicht hätte, das Urteil zu stützen, hat es das Gericht gleichwohl nicht damit bewenden lassen, sondern auch gleich noch dezidiert dazu nachgelegt, warum die Regelungen auch aus materiellen Gründen zu beanstanden sind. Nach seiner Auffassung wurde nämlich durch das allgemeine Kontaktverbot bzw. das Ansammlungsverbot gem. § 2 Abs. 1 und § 3 Abs. 1 3. ThürSARS-CoV-2- die in Art. 1 Abs. 1 GG als unantastbar garantierte Menschenwürde verletzt.
„Unantastbarkeit der Menschenwürde heißt, dass eine Verletzung der Menschenwürde nicht mit anderen Grundwerten der Verfassung gerechtfertigt werden kann; der Achtungsanspruch der Menschenwürde ist kategorisch. Dies bedeutet aber nicht, dass der Inhalt dieses Achtungsanspruchs, das, was der Würde des Einzelnen geschuldet ist, unabhängig von der konkreten Situation bestimmt werden könnte. Insbesondere die Rücksicht auf Würde und Leben anderer prägt den Inhalt des Achtungsanspruchs mit (Maunz/Dürig/Herdegen, GG, Art. 1 Abs. 1 Rn. 46.) So kann z. B. physischer Zwang oder Freiheitsentzug in bestimmten Situationen die Würde des Betroffenen verletzen, in anderen dagegen nicht. In den Worten des Bundesverfassungsgerichts: „Was den Grundsatz der Unantastbarkeit der Menschenwürde angeht, so hängt alles von der Festlegung ab, unter welchen Umständen sie verletzt sein kann. Dies lässt sich nicht generell sagen, sondern immer nur in Ansehung des konkreten Falls.“ (BVerfG NJW 1993, 3315). Unbestritten bleibt dabei, dass es einzelne Handlungen gibt, die unabhängig von dem mit ihnen verfolgten Zweck (Finalität) eine Würdeverletzung darstellen. Dazu zählen Folter, Genozid oder Massenvertreibung. Daneben gibt es bestimmte Handlungen, die allein aufgrund ihrer Finalität würdeverletzend sind, als Beispiel ist hier die rassistische Diskriminierung zu nennen (Herdegen, aaO, Rn. 47). Abgesehen von diesen Fällen kommt es aber immer auf eine wertende Gesamtwürdigung an. Für diese wird von der Rechtsprechung häufig die sog. Objektformel herangezogen, nach der die Menschenwürde betroffen ist, wenn der konkrete Mensch zum bloßen Objekt herabgewürdigt wird. Diese Formel ist aber insofern nur begrenzt operationalisierbar, als sie nicht frei von tautologischen Elementen ist. Sie kann daher nur die Richtung weisen, in der Fälle der Verletzung der Menschenwürde gefunden werden können (BVerfG 30, 1 (25)). Richtungsweisend in diesem Sinne erscheint auch ein Ansatz, der den Menschenwürdesatz als Schutz vor Tabuverletzungen begreift (Sachs/Höfling, GG Art. 1 Rn. 18).
Auf den vorliegenden Fall bezogen ergibt sich daraus folgendes: Bei einem allgemeinen Kontaktverbot handelt es sich um einen schweren Eingriff in die Bürgerrechte. Es gehört zu den grundlegenden Freiheiten des Menschen in einer freien Gesellschaft, dass er selbst bestimmen kann, mit welchen Menschen (deren Bereitschaft vorausgesetzt) und unter welchen Umständen er in Kontakt tritt. Die freie Begegnung der Menschen untereinander zu den unterschiedlichsten Zwecken ist zugleich die elementare Basis der Gesellschaft. Der Staat hat sich hier grundsätzlich jedes zielgerichteten regulierenden und beschränkenden Eingreifens zu enthalten. Die Frage, wie viele Menschen ein Bürger zu sich nach Hause einlädt oder mit wie vielen Menschen eine Bürgerin sich im öffentlichen Raum trifft, um spazieren zu gehen, Sport zu treiben, einzukaufen oder auf einer Parkbank zu sitzen, hat den Staat grundsätzlich nicht zu interessieren.
Mit dem Kontaktverbot greift der Staat – wenn auch in guter Absicht – die Grundlagen der Gesellschaft an, indem er physische Distanz zwischen den Bürgerinnen und Bürgern erzwingt („social distancing“). Kaum jemand konnte sich noch im Januar 2020 in Deutschland vorstellen, dass es ihm durch den Staat unter Androhung eines Bußgeldes untersagt werden könnte, seine Eltern zu sich nach Hause einzuladen, sofern er nicht für die Zeit ihrer Anwesenheit die übrigen Mitglieder seiner Familie aus dem Haus schickt. Kaum jemand konnte sich vorstellen, dass es drei Freunden verboten sein könnte, zusammen auf einer Parkbank zu sitzen. Noch nie zuvor ist der Staat auf den Gedanken verfallen, zu solchen Maßnahmen zur Bekämpfung einer Epidemie zu greifen. Selbst in der Risikoanalyse „Pandemie durch Virus Modi-SARS“ (BT-Drs. 17/12051), die immerhin ein Szenario mit 7,5 Millionen Toten beschrieb, wird ein allgemeines Kontaktverbot (ebenso wie Ausgangssperren und die weitgehende Stilllegung des öffentlichen Lebens) nicht in Erwägung gezogen. Als antiepidemische Maßnahmen werden neben Quarantäne von Kontaktpersonen Infizierter und Absonderung von Infizierten nur Schulschließungen, die Absage von Großveranstaltungen und Hygieneempfehlungen genannt (BT-Drs. 17/12051, S. 61f).
Wenngleich es scheint, dass es in den Monaten der Corona-Krise zu einer Werteverschiebung mit der Folge gekommen ist, dass zuvor als absolut exzeptionell betrachtete Vorgänge inzwischen von vielen Menschen als mehr oder weniger „normal“ empfunden werden, was selbstverständlich auch den Blick auf das Grundgesetz verändert, sollte nach dem Gesagten an sich kein Zweifel daran bestehen, dass mit einem allgemeinen Kontaktverbot der demokratische Rechtsstaat ein – bisher als vollkommen selbstverständlich angesehenes – Tabu verletzt.
Hinzu kommt und als gesondert zu würdigender Aspekt ist zu beachten, dass der Staat mit dem allgemeinen Kontaktverbot zum Zwecke des Infektionsschutzes jeden Bürger als potentiellen Gefährder der Gesundheit Dritter behandelt. Wird jeder Bürger als Gefährder betrachtet, vor dem andere geschützt werden müssen, wird ihm zugleich die Möglichkeit genommen, zu entscheiden, welchen Risiken er sich selbst aussetzt, was eine grundlegende Freiheit darstellt. Ob die Bürgerin abends ein Café oder eine Bar besucht und um der Geselligkeit und Lebensfreude willen das Risiko einer Infektion mit einem Atemwegsvirus in Kauf nimmt oder ob sie vorsichtiger ist, weil sie ein geschwächtes Immunsystem hat und deshalb lieber zu Hause bleibt, ist ihr unter der Geltung eines allgemeinen Kontaktverbotes nicht mehr zur Entscheidung überlassen. Das freie Subjekt, das selbst Verantwortung für seine und die Gesundheit seiner Mitmenschen übernimmt, ist insoweit suspendiert. Alle Bürger werden vom Staat als potentielle Gefahrenquellen für andere und damit als Objekte betrachtet, die mit staatlichem Zwang „auf Abstand“ gebracht werden müssen.
Mit der Feststellung, dass mit dem allgemeinen Kontaktverbot ein Tabu verletzt und der Bürger als Objekt behandelt wird, ist allerdings noch nicht entschieden, ob damit die Menschenwürde verletzt ist. Im Rahmen der wertenden Gesamtwürdigung ist die Frage zu beantworten, ob grundsätzlich Umstände denkbar wären, unter denen ein allgemeines Kontaktverbot dennoch als mit der Würde der Menschen vereinbar angesehen werden könnte. Da eine Tabuverletzung im Bereich grundrechtseingreifenden Handeln des Staates allenfalls zur Abwendung einer ganz außergewöhnlichen Notlage hinnehmbar erscheint, wäre dies nur bei einem allgemeinen Gesundheitsnotstand – einem drohenden flächendeckenden Zusammenbruch des Gesundheitssystems durch Überlastung bzw. der Drohung von Todesfällen in vollkommen anderen Dimensionen als bei den regelmäßig vorkommenden Grippewellen – und auch nur dann gegeben, sofern von dem tabuverletzenden Grundrechtseingriff ein substantieller Beitrag zur Abwendung oder Begrenzung des Notstandes zu erwarten wäre. Beides war nicht der Fall. Dass im Frühjahr kein allgemeiner Gesundheitsnotstand in Deutschland bestand, wurde bereits gezeigt. Dass von einem allgemeinen Kontaktverbot kein substantieller Beitrag zur positiven Beeinflussung einer Epidemie zu erwarten ist, wird unter V. noch näher ausgeführt.
Unter den tatsächlich gegebenen Umständen verletzt der Staat danach mit einem allgemeinen Kontaktverbot den mit der Menschenwürde bezeichneten Achtungsanspruch der Bürger.“
Getroffenen Regelungen sind auch mit dem verhältnismäßig als Grundsatz nicht zu vereinbaren
Aber auch damit ließ es der Richter nicht bewenden, sondern hat noch nachgelegt und aufgezeigt, dass selbst dann, wenn man seine Auffassung zur Verletzung der Menschenwürde nicht folgen würde, die Normen jedenfalls nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot genügen würden.
„Mit dem allgemeinen Kontaktverbot und dem Verbot von Ansammlungen wird in die allgemeine Handlungsfähigkeit gem. Art. 2 Abs. 1 GG und in Spezialgrundrechte eingegriffen. Die Prüfung kann hier auf die Frage der Verhältnismäßigkeit des Eingriffs in die allgemeine Handlungsfreiheit beschränkt werden, da bei Verneinung der Verhältnismäßigkeit dieses Eingriffs auch die Eingriffe in die Spezialgrundrechte (soweit die Eingriffe nicht über den Regelungsinhalt des Kontaktverbotes hinausgehen) unverhältnismäßig sind.
1. Verhältnismäßigkeit setzt voraus, dass mit einem Grundrechtseingriff ein legitimes Ziel verfolgt wird, der Eingriff geeignet ist, die Zielerreichung zu fördern, der Eingriff erforderlich ist, weil es kein milderes Mittel gibt, das in gleicher Weise geeignet ist, und er schließlich auch angemessen, d.h. verhältnismäßig im engeren Sinne ist.
Als Ziel des Lockdowns wurde anfangs ausschließlich die Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems bezeichnet. In dem Lockdown-Beschluss vom 22.03.2020 gaben die Bundeskanzlerin und die Ministerpräsidenten der Länder als Ziel an: „Wir müssen alles dafür tun, um einen unkontrollierten Anstieg der Fallzahlen zu verhindern und unser Gesundheitssystem leistungsfähig zu halten. Dafür ist die Reduzierung von Kontakten entscheidend.“ (https://www.bundesregierung.de/breg-de/themen/coronavirus/besprechung-der-bundeskanzlerin-mit-den-regierungschefinnen-und-regierungschefs-der-laender-vom-22-03-2020-1733248). Um eine Überlastung des Gesundheitssystems durch einen unkontrollierten Anstieg der Patientenzahlen zu verhindern, sollte der Anstieg der Neuinfektionen gebremst werden, um die erwartete Zahl an Intensivpatienten auf einen längeren Zeitraum zu verteilen („flatten the curve“). Dies war auch das maßgebliche Ziel der Thüringer Landesregierung seit dem Erlass der Thüringer Corona-EindämmungsVO vom 24.03.2020 und auch der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO vom 18.04.2020, der eine erneute Beratung der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsidenten der Länder am 15.04.2020 vorausging, bei der beschlossen wurde, den Lockdown zu verlängern. Da die Ausbreitung des Virus als unvermeidlich angesehen wurde, ging es anfangs dagegen nicht darum, die Zahl der Infektionen so gering wie möglich zu halten. Erst nachdem unübersehbar wurde, dass es zu keiner Überlastung des Gesundheitssystems kommen würde, wurde als Ziel der Maßnahmen zunehmend die bloße Minimierung der Infektionszahlen genannt.
Zum Verständnis des Hintergrundes des Lockdown-Beschlusses ist ein im März verfasstes Strategiepapier des Bundesinnenministeriums mit dem Titel „Wie wir COVID-19 unter Kontrolle bekommen“ von Bedeutung (das als Verschlusssache deklarierte Papier ist inzwischen auf der Webseite des Bundesinnenministeriums öffentlich zugänglich https://www.bmi.bund.de/SharedDocs/downloads/DE/veroeffentlichungen/2020/corona/szenarienpapier-covid19.html). In diesem Papier wurden in einem Worst-Case-Szenario über eine Million Tote allein in Deutschland bis Ende Mai 2020 prognostiziert. Der Bedarf an Intensivbetten sollte in dem Szenario etwa am 09.04.2020 erstmals die Zahl der verfügbaren Betten übersteigen. Die Pandemie wurde als „größte Herausforderung seit dem Ende des Zweiten Weltkriege“ bezeichnet – genau diese Worte verwendete auch die Bundeskanzlerin in ihrer Fernsehansprache vom 18.03.2020, was dafür spricht, dass die Prognosen aus dem Strategiepapier bei der Entscheidung über den Lockdown eine maßgebliche Rolle spielten. Allerdings gab es auch im März schon gegenteilige Äußerungen renommierter Wissenschaftler wie die von John Ioannidis, der in einem Artikel vom 17.03.2020 darauf hinwies, dass die bisher verfügbaren Daten solche Szenarien nicht stützen könnten (A fiasco in the making? As the coronavirus pandemic takes hold, we are making decisions without reliable data, StatNews 17.03.2020, https://www.statnews.com/2020/03/17/a-fiasco-in-the-making-as-the-coronavirus-pandemic-takes-hold-we-are-making-decisions-without-reliable-data/).
Bei beiden Zielen – Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems und Minimierung der Infektionen – handelt es sich grundsätzlich um legitime Ziele des Verordnungsgebers, die Verhältnismäßigkeitsprüfung muss aber für jedes Ziel gesondert erfolgen. Dabei ist eine von den übrigen Lockdown-Maßnahmen isolierte Betrachtung des hier zu beurteilenden allgemeinen Kontaktverbotes kaum möglich, aber auch nicht erforderlich, da die Reduzierung von Kontakten die grundlegende Logik des Lockdowns darstellt. Mit einem allgemeinen Kontaktverbot müssen zwangsläufig weitere Maßnahmen wie die Schließung von Einrichtungen einhergehen, da ein allgemeines Kontaktverbot im öffentlichen und privaten Raum bei gleichzeitiger uneingeschränkter Begegnungsmöglichkeit in Kino, Theater, Konzert, in Sporteinrichtungen, in der Gastronomie etc. weitgehend leerliefe.
2. Da es für die Geeignetheit einer Maßnahme im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung als ausreichend angesehen wird, wenn sie die Zielerreichung in irgendeiner Weise fördert, kann das allgemeine Kontaktverbot als geeignet hinsichtlich beider Ziele angesehen werden, da unbestreitbar die Reduktion von Kontakten grundsätzlich zur Reduktion von Infektionen beitragen kann. (Die Frage der Wirksamkeit von Lockdowns ist damit allerdings noch nicht entschieden.)
3. Um eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, waren allerdings zum Zeitpunkt des Erlasses der 3. ThürSARS-CoV-2-EindmaßnVO, wie bereits unter III. 3. gezeigt, die Verhängung eines allgemeinen Kontaktverbotes und auch sonstige Lockdown-Maßnahmen nicht erforderlich.
Da aber dem Verordnungsgeber ein Einschätzungsspielraum einzuräumen ist, stellt sich die Frage, ob die Landesregierung zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses im Rahmen ihres Einschätzungsspielraumes zu einer anderen als der hier dargelegten Situationsbewertung kommen und die Anordnung eines Kontaktverbotes (und anderer Maßnahmen) zur Verhinderung einer Überlastung des Gesundheitssystems für erforderlich halten durfte. Dazu ist festzuhalten, dass von dem Verordnungsgeber erwartet werden muss, dass er in Vorbereitung seiner Entscheidungen die ihm zur Verfügung stehenden und durch ihn auswertbaren Erkenntnisquellen nutzt und die dadurch gewonnenen Erkenntnisse in den Entscheidungsprozess einfließen lässt. Einschätzungsspielraum heißt nicht, dass es dem Verordnungsgeber gestattet wäre, bei widerstreitenden Ansichten und Bewertungen sich ohne Ausschöpfung der eigenen Erkenntnismöglichkeiten „auf eine Seite zu schlagen“. Es heißt auch nicht, dass er sich unter Verweis darauf, dass dem Robert Koch-Institut nach § 4 IfSG vom Bundesgesetzgeber eine zentrale Stellung bei der Einschätzung des Infektionsgeschehens zuerkannt worden ist, auf die in den Täglichen Situationsberichten enthaltene zusammenfassende Risikobewertung zurückziehen und allein wegen einer Risikoeinschätzung für die Gesundheit der Bevölkerung als „hoch“ bzw. „sehr hoch“ einschneidende Maßnahmen für gerechtfertigt halten dürfte. Der Verordnungsgeber trägt die volle Verantwortung für die Verfassungsmäßigkeit der von ihm erlassenen Verordnung und kann diese auch nicht teilweise an das Robert Koch-Institut delegieren. Um dieser Verantwortung gerecht zu werden, muss er sich – soweit nötig, selbstverständlich unter Zuhilfenahme sachkundiger Expertise und Beratung – eigene Sachkunde verschaffen, was vorliegend heißt, dass er sich mit den vom Robert Koch-Institut bereitgestellten Daten und mit Daten aus anderen, ihm zugänglichen Quellen selbst auseinandersetzen muss.
Unter Beachtung dieser Anforderungen ist die Frage, ob der Verordnungsgeber die Verlängerung des Lockdowns als erforderlich zur Abwendung einer Überlastung des Gesundheitssystems erachten durfte, eindeutig mit „Nein“ zu beantworten. Dem Verordnungsgeber standen die Daten des Intensivregisters zur Verfügung; unabhängig davon war ihm eine Abfrage der Situation in den Thüringer Kliniken ohne weiteres möglich und wurde sehr wahrscheinlich auch durchgeführt. Auch die oben bereits erläuterten Daten aus den Täglichen Situationsberichten und dem Epidemiologischen Bulletin 17/2020 des Robert Koch-Instituts standen dem Verordnungsgeber zur Verfügung. Die Grafik über den Verlauf der Neuerkrankungen wurde erstmals im Situationsbericht vom 15.04.2020 veröffentlicht, konnte daher vom Verordnungsgeber berücksichtigt werden. Davor hatte das Robert Koch-Institut bereits wochenlang eine Grafik zum Verlauf der Neuerkrankungen veröffentlicht, die zwar weniger genau war, weil in ihr bei den Fällen, bei denen der Erkrankungsbeginn nicht bekannt war, keine Schätzung des Erkrankungsbeginns vorgenommen, sondern ersatzweise das Meldedatum verwendet wurde (z. B. Täglicher Situationsbericht vom 01.04.2020, S. 4, Abb. 3), aber auch dieser Grafik war zu entnehmen, dass der Höhepunkt der Neuerkrankungen bereits Mitte März erreicht war. Die am 15.04.2020 veröffentlichte Grafik kam daher keinesfalls überraschend, sondern entsprach ziemlich genau dem, was bereits wochenlang in den Situationsberichten zum Verlauf der Neuerkrankungen veröffentlicht wurde. Der Verordnungsgeber konnte danach wissen, dass die Zahl der Neuinfektionen in Deutschland bereits seit Mitte März sank. Es gab danach für ihn keinen Grund für die Annahme, es könnte doch noch eine Welle von COVID-19-Patienten auf die Thüringer Kliniken zukommen. Dafür hätte es eine Trendumkehr geben müssen, für die es keinerlei Anhaltspunkte gab.
Der Verordnungsgeber konnte aus den Daten des Robert Koch-Instituts auch erkennen, dass es keine Hinweise auf die Wirksamkeit des am 22. März beschlossenen Lockdowns gab, so dass für den Fall der Aufhebung des Lockdowns auch nicht mit einem erneuten Anstieg der Infektionen zu rechnen war. Schließlich war für den Verordnungsgeber auch ohne weiteres erkennbar, dass selbst für den Fall eines – entgegen den sich aus dem bisherigen Verlauf der Epidemie ergebenden Erwartungen – erneuten Anstieges der Neuinfektionen aufgrund der enormen Zahl freier Betten (528 freie Intensivbetten bei 56 COVID-19-Patienten am 16. April) noch ausreichend Zeit bliebe, um auf die veränderte Situation zu reagieren. Es gab also auch bei einem ungeachtet der klaren Datenlage verbliebenen Misstrauen hinsichtlich der Stabilität der Entwicklung keinen Grund für eine vorsorgliche Verlängerung des Lockdowns. Und nicht zuletzt hätte es der Landesregierung zu denken geben und das Vertrauen in die eigene Bewertung der Situation stärken müssen, dass sich Schreckensszenarien wie die aus dem Strategiepapier des Bundesinnenministeriums vom März ganz offensichtlich als science fiction erwiesen hatten.
4. Soweit die Minimierung der Infektionen als eigenständiges Ziel, unabhängig von der Frage, ob eine Überlastung des Gesundheitssystems drohte, verfolgt wurde, ist das Kontaktverbot in Bezug auf dieses Ziel als erforderlich anzusehen, da ohne ein Kontaktverbot die Erreichung des Ziels nicht in gleicher Weise gefördert werden konnte. Es ist aber nicht verhältnismäßig im engeren Sinne.
a. Für die Prüfung der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne sind der Nutzen der Maßnahmen und die Kosten, die sich aus den Freiheitseinschränkungen und ihren Kollateralschäden und Folgekosten zusammensetzen, gegeneinander abzuwägen. Dafür müssen die Vorteile und die Nachteile beschrieben, gewichtet und bewertet werden (Murswiek, Verfassungsrechtliche Probleme der Corona-Bekämpfung. Stellungnahme für die Enquete-Kommission 17/2 „Corona-Pandemie“ des Landtags Rheinland-Pfalz, S. 24, https://dokumente.landtag.rlp.de/landtag/vorlagen/2-12-17.pdf).
b. Als Nutzen des Lockdowns wäre die Zahl der verhinderten COVID-19-Todesfälle und schweren Erkrankungen anzusehen, wobei, präzise formuliert, nach dem Nutzen zu fragen ist, den der Verordnungsgeber zum Zeitpunkt des Verordnungserlasses am 18.04.2020 unter Berücksichtigung seines Einschätzungsspielraumes berechtigterweise erwarten durfte. Hierzu ist erneut darauf zu verweisen, dass der Verordnungsgeber wissen musste, dass die Zahl der Neuinfektionen bereits seit Mitte März sank, dass die effektive Reproduktionszahl seit Beginn des Lockdowns am 23.03.2020 um den Wert 1 schwankte und ein positiver Effekt des bereits dreieinhalb Wochen andauernden Lockdowns nicht erkennbar war. Auch die Grafik betreffend den Verlauf der Neuerkrankungen zeigte eine nahezu gleichmäßig abfallende Kurve ohne erkennbare Stufung, so dass auch an ihr ein Effekt des Lockdowns nicht ablesbar war. Dafür, dass die Zahl der Neuerkrankungen durch die Verlängerung des Lockdowns mit der Verordnung vom 18.04.2020 signifikant beeinflusst werden könnte, gaben die Daten des Robert Koch-Instituts keinerlei Anhaltspunkte. Der Verordnungsgeber konnte somit allenfalls eine sehr geringfügige Reduzierung der Zahl der Neuerkrankungen (und damit der Todesfälle) erwarten. Tatsächlich zeigte die Fortschreibung der Kurve der Neuerkrankungen in den Täglichen Situationsberichten dann auch nach dem 18.04.2020 keinen erkennbaren Effekt der Verlängerung des Lockdowns.
Dass der Lockdown seit dem 23. März keinen messbaren Effekt hatte, ist auch insofern nicht überraschend, als die WHO erst in einer im Oktober 2019 veröffentlichten Metastudie zur Wirksamkeit von sog. nicht-pharmazeutischen Interventionen (non-pharmaceutical interventions = NPI) bei Influenzaepidemien zu dem Ergebnis kam, dass es für die Wirksamkeit sämtlicher untersuchter Maßnahmen (Arbeitsstättenschließungen, Quarantäne, social distancing u.d.) nur geringe oder gar keine Evidenz gebe (Non-pharmaceutical public health measures for mitigating the risk and impact of epidemic and pandemic influenza, https://www.who.int/influenza/publications/public_health_measures/publication/en/). Ob diese Studie von der Bundesregierung oder der Landesregierung vor der Entscheidung über den Lockdown zur Kenntnis genommen wurde, ist dem Gericht nicht bekannt, angesichts der Folgenschwere der Entscheidung konnte aber erwartet werden, dass die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse zu Lockdowns bzw. NPIs ausgewertet werden.
Inzwischen gibt es mehrere wissenschaftliche Studien, die zu dem Ergebnis kommen, dass die in der Corona-Pandemie in verschiedenen Ländern angeordneten Lockdowns nicht mit einer signifikanten Verringerung von Erkrankungs- und Todeszahlen verbunden waren. Eine im August in der Fachzeitschrift EClinicalMedicine veröffentlichte Beobachtungsstudie (Chaudhry, A country level analysis measuring the impact of government actions, country preparedness and socioeconomic factors on COVID-19 mortality and related health outcomes, https://www.thelancet.com/action/showPdf?pii=S2589-5370%2820%2930208-X), in der die 50 Länder mit den meisten registrierten Fällen von COVID-19 zum Stichtag 01.04.2020 untersucht und Daten aus öffentlich zugänglichen Zahlen für den Zeitraum 01.04. bis 01.05.2020 ausgewertet wurden, kam zu dem Ergebnis, dass die Faktoren, die am stärksten mit der Zahl der COVID-19-Todesfälle in einem Land korrelieren, die Adipositasrate, das Durchschnittsalter der Bevölkerung und das Ausmaß der Einkommensunterschiede sind. Zwischen der Schwere und Dauer der Lockdowns und der Zahl der COVID-19-Todesfälle, zwischen Grenzschließungen und COVID-19-Todesfällen und zwischen durchgeführten Massentests und COVID-19-Todesfällen konnte dagegen keine Korrelation festgestellt werden, was für fehlende oder jedenfalls nur schwache Kausalität spricht. Diese Ergebnisse wurden durch eine im November veröffentlichte Studie (De Larochelambert, Covid-19 Mortality: A Matter of Vulnerability Among Nations Facing Limited Margins of Adaptation, https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpubh.2020.604339/full), in welcher für 160 Länder der Einfluss verschiedenster Faktoren auf die Anzahl der COVID-19-Todesfälle untersucht wurde, und zuletzt durch eine Studie von Bendavid/Ioannidis bestätigt (Bendavid/Ioannidis, Assessing mandatory stay-at-home and business closure effects on the spread of COVID-19, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/epdf/10.1111/eci.13484; Hinweise auf weitere Studien bei Kuhbandner, Warum die Wirksamkeit des Lockdowns wissenschaftlich nicht bewiesen ist).
Auch der im November zunächst nur für einen Monat („Wellenbrecherlockdown“) angeordnete und inzwischen zweimal verlängerte Lockdown erbringt offensichtlich noch einmal den Beweis, dass sich mit Lockdowns das Infektionsgeschehen und insbesondere die Zahl der tödlich verlaufenden Fälle nicht signifikant beeinflussen lässt. Nach dem aktuellen Thesenpapier der Autorengruppe um Schrappe (Thesenpapier 7 vom 10.01.2021, S. 5, 24f, http://www.matthias.schrappe.com/index_htm_files/Thesenpap7_210110_endfass.pdf) ist die Lockdown-Politik gerade für die vulnerablen Gruppen, für die COVID-19 die größte Gefahr darstellt, wirkungslos. Zu demselben Ergebnis kommt auch der bereits erwähnte CoDAG-Bericht Nr. 4 des Instituts für Statistik der LMU München.
c. Hinsichtlich der Kosten des Lockdowns ist zunächst erneut festzuhalten, dass es sich bei den mit dem Lockdown verbundenen Freiheitseinschränkungen um die umfassendsten und weitreichendsten Grundrechtseinschränkungen in der Geschichte der Bundesrepublik handelte. Schon daraus ergibt sich, dass die Freiheitseinschränkungen ein so großes Gewicht haben, dass sie allenfalls dann gerechtfertigt sein können, wenn die Gefahr, deren Bekämpfung sie dienten, ganz außergewöhnlich groß war (Murswiek, aaO, S. 33) und durch die Maßnahmen des Lockdowns zugleich ein großer positiver Effekt erwartet werden konnte, was aber nach dem Gesagten nicht der Fall war.
Zu der unmittelbaren Wirkung der Freiheitseinschränkungen kommen die Kollateralschäden und Folgeschäden hinzu. Diese lassen sich (vgl. Murswiek, aaO, S. 33-38) wie folgt differenzieren:
aa) Ökonomisch bewertbare Schäden
(1) Gewinneinbußen/Verluste von Unternehmen/Handwerkern/Freiberuflern, die unmittelbare Folgen der an sie adressierten Freiheitseinschränkungen sind
(2) Gewinneinbußen/Verluste von Unternehmen/Handwerkern/Freiberuflern, die mittelbare Folgen der Lockdown-Maßnahmen sind (z.B. Gewinneinbußen von Zulieferern von unmittelbar betroffenen Unternehmen; Gewinneinbußen, die aus der Unterbrechung von Lieferketten resultieren und z.B. zu Produktionsausfällen führten; Gewinneinbußen, die aus Reisebeschränkungen resultierten)
(3) Lohn- und Gehaltseinbußen durch Kurzarbeit oder Arbeitslosigkeit
(4) Konkurse/Existenzvernichtungen
(5) Folgekosten von Konkursen/Existenzvernichtungen
Dazu mit Murswiek (aaO, S. 33f): „Die meisten dieser Schäden werden sich ziemlich genau ermitteln lassen. Sie sind insgesamt mit Sicherheit gigantisch. Eine Vorstellung von ihrer Größenordnung erhält man, wenn man sich vor Augen hält, welche Summen der Staat als Corona-Hilfen in den Wirtschaftskreislauf einspeist. So umfasst der von der Bundesregierung beschlossene „Corona-Schutzschild“ 353,3 Mrd. Euro Zuschüsse und zusätzlich 819,7 Mrd. Euro Garantien, also insgesamt über 1 Billion Euro. Es handelt sich, wie die Bundesregierung sagt, um das größte Hilfspaket in der Geschichte Deutschlands. Hinzu kommen Hilfen der Länder. Da die staatlichen Hilfen großenteils Kredite beziehungsweise Kreditgarantien umfassen, stehen ihnen nicht notwendigerweise entsprechend hohe Verluste der privaten Wirtschaft gegenüber. Andererseits werden die privaten Verluste jedenfalls wesentlich größer sein als die staatlichen Entschädigungen oder als verlorene Zuschüsse gezahlten Hilfsgelder. Noch nie zuvor in der Geschichte der Bundesrepublik Deutschlands sind wirtschaftliche Schäden in dieser Größenordnung durch eine staatliche Entscheidung verursacht worden. Was die Bewertung der Schäden der Privatwirtschaft und der privaten Haushalte angeht, so muss berücksichtigt werden, dass die Einbußen zum Teil durch staatliche Leistungen kompensiert worden sind oder noch kompensiert werden. Die staatlichen Leistungen vermindern also den ökonomischen Schaden der privaten Wirtschaftssubjekte. Sie vermindern aber nicht den volkswirtschaftlichen Gesamtschaden, denn sie belasten ja die öffentlichen Haushalte und somit letztlich die Steuerzahler. Diese Kosten dürfen bei der Berechnung der Nachteile des Lockdown nicht unter den Tisch fallen.“
bb) Leben und Gesundheit der Menschen in Deutschland
(1) die Zunahme häuslicher Gewalt gegen Kinder und Frauen
(2) Zunahme von Depressionen infolge sozialer Isolation
(3) Angst-Psychosen/Angst-Störungen infolge Corona-Angst
(4) andere psychische Störungen/nervliche Überlastung wegen familiärer/persönlicher/beruflicher Probleme infolge des Lockdown
(5) Zunahme von Suiziden, beispielsweise infolge von Arbeitslosigkeit oder Insolvenz(6) gesundheitliche Beeinträchtigungen infolge von Bewegungsmangel
(7) Unterlassung von Operationen und stationären Behandlungen, weil Krankenhausbetten für Coronapatienten reserviert wurden
(8) Unterlassung von Operationen, stationären Behandlungen, Arztbesuchen, weil Patienten Infizierung mit Covid-19 befürchten
Diese Folgen hätten vor der Entscheidung über den Lockdown jedenfalls grob abgeschätzt werden müssen. Für die Verhältnismäßigkeitsprüfung ist es vorliegend ausreichend, wenn zur Erläuterung einzelne Schlaglichter geworfen werden:
Zu (1): Für Berlin wurde durch die Senatsverwaltung für das erste Halbjahr 2020 ein Anstieg der Kindesmisshandlungen um 23% berichtet (Gewalt eskaliert in Berlin immer häufiger. Der Tagesspiegel vom 02.07.2020, https://www.tagesspiegel.de/berlin/corona-krise-trifft-frauen-und-kinder-besonders-gewalt-eskaliert-in-berlin-immer-haeufiger/25970410.html). Laut einer repräsentativen Befragungstudie (Steinert/Ebert, Gewalt an Frauen und Kindern in Deutschland während COVID-19-bedingten Ausgangsbeschränkungen,
https://drive.google.com/file/d/19Wqpby9nwMNjdgO4_FCqqlfYyLJmBn7y/view) wurden in der Zeit des Lockdowns im Frühjahr rund 3 Prozent der Frauen in Deutschland zu Hause Opfer körperlicher Gewalt, 3,6 Prozent wurden von ihrem Partner vergewaltigt, in 6,5 Prozent aller Haushalte wurden Kinder gewalttätig bestraft.
Zu (5): Die Zahl der Suizide, die in Deutschland statistisch erfasst wird, liegt für das Jahr 2020 zwar noch nicht vor, einen Hinweis auf einen möglicherweise erheblichen Anstieg der Suizide gibt aber folgende Mitteilung der Senatsinnenverwaltung Berlin: Bis Oktober gab es bei der Berliner Feuerwehr unter dem Stichwort „Beinahe Strangulierung/ Erhängen, jetzt wach mit Atembeschwerden“ (Einsatzcode 25D03) 294 Einsätze, im Jahr 2018 gab es dagegen nur sieben und im Jahr 2019 nur drei solcher Einsätze (Möglicher Suizid: Zahl der Rettungseinsätze steigt massiv an. Berliner Zeitung vom 10.11.2020, htttps://www.berliner-zeitung.de/news/berliner-feuerwehr-zahl-der-einsaetze-wegen-moeglichem-suiziden-steigt-massiv-an-li.117723)
Zu (7): Während des Lockdowns im Frühjahr wurden in Deutschland mehr als 908.000 Operationen abgesagt, und zwar nicht nur sog. elektive Operationen wie die Implantation von Kniegelenks- und Hüftgelenksendoprothesen, Kniegelenksarthroskopien, Katarakt-Operationen u.ä., sondern auch 52.000 Krebs-Operationen (In Deutschland wurden fast eine Million Operationen abgesagt. WELT v. 29.05.2020, https://www.welt.de/wirtschaft/article208557665/Wegen-Corona-In-Deutschland-wurden-908-000-OPs-aufgeschoben.html). Laut einer im British Medical Journal im November veröffentlichten Meta-Analyse (Hanna, Mortality due to cancer treatment delay: systematic review and meta-analysis, BMJ 2020, 371, https://www.bmj.com/content/371/bmj.m4087) erhöht bereits eine vierwöchige Verschiebung einer Krebstherapie das Sterberisiko je nach Krebsart um sechs bis 13 Prozent, ein Aufschub von acht Wochen bei Brustkrebs das Sterberisiko um 13 Prozent, ein Aufschub um zwölf Wochen um 26 Prozent. Ohne dies hier näher beziffern zu können, kann danach kein Zweifel daran bestehen, dass die Absage von Operationen auch in Deutschland zu Todesfällen geführt hat.
Zu (8): In einer Studie des Klinikums Hochrhein Waldshut-Tiengen (Kortüm, Corona-Independent Excess Mortality Due to Reduced Use of Emergency Medical Care in the Corona Pandemic: A Population-Based Observational Study, https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.10.27.20220558v1) wurde die Übersterblichkeit im Landkreis Waldshut (170.000 Einwohner) im April 2020 untersucht. Dort starben im Durchschnitt der Jahre 2016 bis 2019 im April 165 Menschen, 2020 waren es 227, was einer Übersterblichkeit von 37 Prozent entspricht. Von den 62 zusätzlichen Todesfällen ließen sich aber nur 34 mit Corona in Verbindung bringen, 28 und damit 45% der Übersterblichkeit gingen auf andere Todesursachen zurück. Die Studienautoren führen diese Fälle auf die reduzierte Nutzung medizinischer Notfallstrukturen zurück, wofür auch spricht, dass mehr als doppelt so viele Menschen als im Vergleichsdurchschnitt tot alleine zu Hause aufgefunden wurden. Ähnliche Untersuchungen für andere Regionen Deutschlands fehlen. Kuhbandner hat aber mit einer Gegenüberstellung der Anzahl der Todesfälle in Deutschland im Zeitraum 1.-47. Kalenderwoche mit dem Durchschnitt der Jahre 2016-2019 und der Anzahl der mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorbenen Personen gezeigt, dass nur 51,1 % der Übersterblichkeit auf mit oder am SARS-CoV-2-Virus verstorbene Personen zurückgeht (Kuhbandner, Über die ignorierten Kollateralschäden von Lockdowns, https://www.heise.de/tp/features/Ueber-die-ignorierten-Kollateralschaeden-von-Lockdowns-4993947.html?seite=all). Dies bedeutet zwar nicht, dass sämtliche anderen Übersterblichkeitstodesfälle als Kollateralschäden des Lockdowns gewertet werden könnten, insbesondere die starke Übersterblichkeit in der 33. Kalenderwoche ist vermutlich auf eine Hitzewelle zurückzuführen. Dennoch geben diese Zahlen einen deutlichen Hinweis auf Todesfälle, die auf unterbliebene oder verspätete Inanspruchnahme medizinischer Versorgung aus Angst vor Corona-Infektionen zurückzuführen sind.
cc) Ideelle Schäden
(1) Bildungseinbußen und Beeinträchtigung der psychosozialen Entwicklung von Kindern durch Ausfall oder Einschränkungen des Schulunterrichts bzw. der Schließung anderer Bildungseinrichtungen
(2) Verlust an kulturellen Anregungen/Erlebnissen durch Schließung von Theatern, Konzert- oder Opernhäusern und vielen anderen kulturellen Einrichtungen
(3) Verlust musischer Entfaltungsmöglichkeiten durch Verbote, die gemeinsames Musizieren in Orchestern oder Chören unterbinden
(4) Verlust von Gemeinschaftserlebnissen/persönlichem sozialem Miteinander durch Verbot von Zusammenkünften in Vereinen, Verbot von Veranstaltungen, Verbot von Ansammlungen, Schließung von Kneipen usw.
(5) Einschränkung sozialer Entwicklungsmöglichkeiten für Kinder durch Schließung von Kindergärten
(6) Isolierung von Kindern in Wohnungen ohne Kontakte zu anderen Kindern durch Schließung von Schulen, Kindergärten und Spielplätzen
Zu (1) Die Schule ist nicht nur ein Ort der Wissensvermittlung, sondern ein Ort sozialen Lernens. Durch die Schulschließungen entfällt das soziale Lernen praktisch vollständig, die Vereinzelung der Kinder und Jugendlichen wird gefördert. Homeschooling kann gerade von Eltern in migrantischen oder bildungsfernerem Milieu nicht geleistet werden. Die soziale Spaltung der Gesellschaft wird daher verstärkt. Auch das Erlernen der deutschen Sprache bei Kindern aus migrantischen Familien wird massiv gestört. Zu diesen Problemen gibt es inzwischen eine Vielzahl von Berichten aus der Praxis (exemplarisch: „Der Stand in Deutsch? Der ist bei einem Drittel der Schüler katastrophal“. WELT vom 11.01.2021, https://www.welt.de/politik/deutschland/plus224000152/Geschlossene-Schulen-Was-das-fuer-Kinder-in-sozialen-Brennpunkten-bedeutet.html), wissenschaftliche Studien stehen – soweit ersichtlich – noch aus.
dd) Folgekosten
(1) von Bund und Ländern an die Wirtschaftssubjekte geleistete Corona-Hilfen
(2) Steuerausfälle infolge der Einschränkung der Wirtschaftstätigkeit durch den Lockdown
(3) Kurzarbeitergeld und Arbeitslosenhilfe, die infolge des Lockdown gezahlt werden mussten
(4) Sozialhilfe für infolge des Lockdown auf Sozialhilfe angewiesene Menschen
Allein der „Corona-Schutzschild“, ein am 27.03.2020 beschlossenes Gesetzespaket, hatte ein Volumen von 1,173 Billionen Euro (353,3 Mrd. Euro Hilfsleistungen, 819,7 Mrd. Euro Garantien. Die letzten Bundeshaushalte hatten ein Volumen von 356,4 Mrd. Euro (2019) und 346,6 Mrd. Euro (2018). Auch wenn die gegebenen Garantien nicht per se „verloren“ sind, dürften die Belastungen insgesamt die Höhe von mehreren Bundeshaushalten erreichen (Murswiek, aaO, S. 38).
ee) gesundheitliche und ökonomische Schäden in Ländern des Globalen Südens
Der Lockdown im Frühjahr in Thüringen war Teil eines aus 16 Lockdowns der Bundesländer zusammengesetzten, ganz Deutschland umfassenden Lockdowns, der wiederum im Zusammenhang mit der Lockdown-Politik in nahezu allen Ländern der westlichen Welt gesehen werden muss. Daher ist es berechtigt und notwendig, auch nach den Auswirkungen dieser Politik auf die Länder des Globalen Südens zu fragen. Die hier bereits eingetretenen bzw. noch zu erwartenden Kollateralschäden sind enorm. Gründe sind die Unterbrechung von Anti-Tuberkulose-Programmen, die Unterbrechung von Impfprogrammen gegen Kinderkrankheiten, Unterbrechungen in der Nahrungsmittelversorgung durch den Zusammenbruch von Lieferketten u.a.m. Die UN rechnet mit dem Hungertod von mehr als 10.000 Kindern pro Monat im ersten Pandemiejahr (Mehr als 10.000 Kinder verhungern wegen Corona jeden Monat, RP Online vom 28.07.2020, https://rp-online.de/panorama/coronavirus/mehr-als-10000-kinder-verhungern-jeden-monat-krise-durch-corona-verschaerft_aid-52446949). Allein in Afrika werden laut Bundesentwicklungsminister Müller zusätzlich 400.000 Opfer durch Malaria und HIV und eine halbe Million Tuberkulose-Tote als Folge des Lockdowns erwartet (Mehr Corona-Opfer durch Lockdown als durch das Virus: In Afrika wurden die Krisen massiv verschärft, Berliner Zeitung vom 01.10.2020, https://www.berliner-zeitung.de/gesundheit-oekologie/mehr-tote-durch-lockdown-als-durch-corona-in-afrika-hat-die-pandemie-die-krisen-massiv-verschaerft-li.108228). Laut einem Artikel von John Ioannidis (Global perspective of COVID-19 epidemiology for a full-cycle pandemic, https://onlinelibrary.wiley.com/doi/full/10.1111/eci.13423) sollen in den nächsten 5 Jahren sogar 1,4 Millionen zusätzliche Tuberkulose-Tote zu befürchten sein. Langfristig werde die Übersterblichkeit durch die Maßnahmen wahrscheinlich deutlich größer als die Zahl der COVID-19-Toten sein.
Da die Lockdown-Politik in Thüringen ein – wenn auch natürlich sehr kleiner – Teil einer nahezu alle westlichen Industrieländer betreffenden Lockdown-Politik ist, sind diese Schäden, soweit sie nicht aus von den betroffenen Staaten selbst zu verantwortenden politischen Entscheidungen resultieren, sondern indirekte Folge der Lockdowns in den Industrieländern sind, auch anteilig ihr zuzurechnen und deshalb grundsätzlich in die Verhältnismäßigkeitsprüfung mit einzustellen.
d. Nach dem Gesagten kann kein Zweifel daran bestehen, dass allein die Zahl der Todesfälle, die auf die Maßnahmen der Lockdown-Politik zurückzuführen sind, die Zahl der durch den Lockdown verhinderten Todesfälle um ein Vielfaches übersteigt. Schon aus diesem Grund genügen die hier zu beurteilenden Normen nicht dem Verhältnismäßigkeitsgebot. Hinzu kommen die unmittelbaren und mittelbaren Freiheitseinschränkungen, die gigantischen finanziellen Schäden, die immensen gesundheitlichen und die ideellen Schäden. Das Wort „unverhältnismäßig“ ist dabei zu farblos, um die Dimensionen des Geschehens auch nur anzudeuten. Bei der von der Landesregierung im Frühjahr (und jetzt erneut) verfolgten Politik des Lockdowns, deren wesentlicher Bestandteil das allgemeine Kontaktverbot war (und ist), handelt es sich um eine katastrophale politische Fehlentscheidung mit dramatischen Konsequenzen für nahezu alle Lebensbereiche der Menschen, für die Gesellschaft, für den Staat und für die Länder des Globalen Südens.“
Anmerkung:
Hält ein Gericht ein Gesetz für verfassungswidrig, so kann es grundsätzlich das Gesetz nicht verwerfen, sondern muss in diesem Fall zunächst das Bundesverfassungsgericht im Rahmen einer sog. konkreten Normenkontrolle (Richtervorlage) nach Art. 100 Abs. 1 GG anrufen. Da es sich bei den Coronaschutzverordnungen allerdings nicht um Gesetze im formellen Sinn, sondern um Gesetze nur im materiellen Sinne handelt, weil diese nicht von der Legislative, sondern von der Exekutive stammen, besteht in derartigen Fällen die Vorlagepflicht nicht. Stattdessen hat jedes Gericht nicht nur die Aufgabe, sondern auch die Verpflichtung derartige Gesetze auf die Verfassungsmäßigkeit zu überprüfen und für den Fall, dass es diese nicht für gegeben erachtet, das Gesetz zu verwerfen, also nicht anzuwenden (grundlegend BVerfGE 1, 184 (195ff)).
Wer die Auffassung des Gerichtes nicht teilt, und den Richter als „Spinner“ abtun möchte, der verkennt, dass sich hier das Gericht weit über das übliche Maß hinaus Gedanken gemacht und umfassend in ein bis dahin weitgehend unbekanntes Rechtsgebiet eingearbeitet hat. Das Urteil zeigt viele Schwachstellen der Coronapolitik auf und ist ein Fundus für all diejenigen, die die Selbstherrlichkeit der Verwaltung, die seit einiger Zeit Einzug gehalten und erstaunlich klaglos hingenommen wird, nicht akzeptieren, sondern einer gerichtlichen Kontrolle zuführen möchten. Gleichwohl ist kaum zu erwarten, dass das Urteil zu einem generellen Umdenken in der Rechtsprechung führen wird, denn zum einen hat sich natürlich das Infektionsgeschehen nicht nur verändert, sondern auch manifestiert und zum anderen sind auch Richter trotz der gesetzlich festgeschriebenen richterliche Unabhängigkeit Staatsdiener. Beim Lesen des Urteils sind dem Verfasser sofort mahnende Worte eines seiner Ausbilder wird Juristenausbildung eingefallen, der stets gepredigt hatte, dass man als Richter, jedenfalls dann, wenn man Karriere machen wolle, immer gut daran täte „staatstragend“ zu argumentieren… Von daher liegt die Vermutung nahe, dass der wackere Richter wohl ein Forum gesucht, und in seinem Verfahren auch gefunden hat, seinem Unmut und Unbehagen Gehör zu verschaffen.