Am 19.05.2022 hat das Bundesverfassungsgericht eine bereits am 24.04.2022 (1 BvR 2649/21) gefassten Beschluss eine Verfassungsbeschwerde gegen die sog. Einrichtungs- und unternehmensbezogene Impfpflicht (Nachweispflichte) zurückgewiesen und dabei nicht nur die Hoffnung von tausenden von ungeimpften Mitarbeitern im Pflege- und Gesundheitsbereich zunichte gemacht, sondern zugleich die Diskussion um die allgemeine Impfpflicht, die augenblicklich in der medialen Aufmerksamkeit Dank des Ukrainer-Kriegs in den Hintergrund gerückt ist, neu befeuert. Die obersten deutschen Richter haben dabei für Recht erkannt, dass durch die Regelungen in den § 20a, § 22a und § 73 Abs. 1a Nr. 7e bis 7h des Gesetzes zur Verhütung und Bekämpfung von Infektionskrankheiten beim Menschen (Infektionsschutzgesetz – IfSG) die Beschwerdeführer, die allesamt im Gesundheitswesen beschäftigt waren, nicht in ihren Grundrechten aus Art. 2 Abs. 2 Satz 1 GG und Art. 12 Abs. 1 GG verletzt würden.
Zwar würde durch die gesetzliche Regelung mit hoher Intensität in den Schutzbereich der Grundrechte eingegriffen, die Eingriffe seien aber verfassungsrechtlich gerechtfertigt, weil der Gesetzgeber im Rahmen des ihm zustehenden Einschätzungsspielraums einen angemessenen Ausgleich zwischen dem mit der Nachweispflicht verfolgten Schutz vulnerabler Menschen vor einer Infektion mit dem Coronavirus SARS-CoV-2 und den Grundrechtsbeeinträchtigungen gefunden habe, so die Richter.
Argumente, wie beispielweise, dass die am Markt derzeit erhältlichen Impfstoffe auch nach 2 Jahren über keine reguläre Zulassung, sondern lediglich über eine Notfallzulassung verfügen, gerade bei Omikron deutlich wurde, dass selbst eine Dreifachimpfung weder vor Ansteckung noch vor Weitergabe des Virus schützt, bereits Impfschäden aufgetreten seien, und derzeit noch gar nicht absehbar sei, welche Langzeitfolgen die Impfung habe, haben die Richter zwar diskutiert, im Ergebnis dann aber immer mit der gleichen Begründung, dem Schutz vulnerabler Gruppen begründet (für Nichtlateiner: vulnerable bedeutet verletzlich).
Anmerkung:
Schwache und Verletzliche zu schützen, klingt auf den 1. Blick edel und lobenswert. Jedermann kennt Robin Hood, den englischen Wegelagerer, der juristisch betrachtet eine Wiederholungsstraftäter war, es aber gleichwohl zur Berühmtheit gebracht hat, mit der Besonderheit, dass niemand den kriminellen in ihm sieht, sondern den wagemutigen Helden.
Auf den 2. Blick fällt bei der Entscheidung auf, dass diese gerade zum Eiltempo durch das Bundesverfassungsgericht gepeitscht wurde. Während Otto Normalverbraucher, der sich mit einer Verfassungsbeschwerde an das Bundeserfassen sich wendet, regelmäßig mehrere Jahre allein auf die Entscheidung darüber wartet, ob seine Verfassungsbeschwerde überhaupt zur Entscheidung angenommen wird, wurde hier sang und klanglos ein Verfahren im Eiltempo durch das Bundesverfassungsgericht getrieben und dann die Öffentlichkeit erst ca. 3 Wochen später von der Entscheidung informiert.
Als der Verfasser selbst noch in der Ausbildung ein Repetitorium im öffentlichen Recht in München besucht hatte, pflegte der den kursleitende Repetitor, ein alter Haudegen, immer zu sagen, dass dann, wenn man im Examen im öffentlichen Recht staatstragend argumentieren würde, man stets auf der richtigen Seite liege, also die richtige Lösung für die Examensklausur finden würde. Er hat dies dann oft noch in allen Varianten vertieft, dass auch dann, wenn man als Richter beim Staat Karriere machen wolle, es von Vorteil sei, seine Urteile so zu verfassen, dass sie „staatstragend“ sind. Obwohl das ganze nun schon bald 25 Jahre zurückliegt, ist mir dies beim Lesen des Urteils wieder eingefallen. Das Urteil ist staatstragend, weil sich mit der Argumentation, die das Bundesverfassungsgericht hier an den Tag gelegt hat, letztlich alles und jedes begründen lässt. Alte, Kranke und Schwache zu schützen, die sich selbst nicht ausreichend schützen können, weil sie sich nicht aussuchen können, wer sie behandelt oder pflegt und selbst bei ihnen alters- oder krankheitsbedingt die Wirkung einer Impfung relativiert ist, ist auf den 1. Blick ein edles Ziel. Auf den 2. Blick stellt sich allerdings die Frage, nachdem bekanntermaßen bereits jetzt ein Pflegenotstand in Deutschland besteht, wer diese Alten, Kranken und Schwachen, behandeln und pflegen soll, wenn all diejenigen, die bislang nicht geimpft sind, und sich auch durch das Urteil nicht dazu bewegen lassen, sich impfen zu lassen, ihren Beruf an den Nagel hängen und aus dem Gesundheitswesen abwandern. Darunter leiden dann nicht nur vulnerabler Gruppen, sondern jeder, vom Säugling bis zum Greis, der auf medizinische Hilfe angewiesen ist. Für diejenigen, die sich durch Ausbildung oder Studium gequält haben, um einen medizinischen Beruf ergreifen zu können, denen eine solche Regelung aber einem Berufsverbot gleichkommt, jedenfalls dann, wenn sie – aus welchen Gründen auch immer – eine Impfung kategorisch ablehnen, bedeutet es nicht nur eine Berufsausübungsregelung, sondern eine Berufswahlregelung. Ebenso für den Medizinstudenten oder die Pflegeschülerinnen, die nun überlegen müssen, ob sie die Ausbildung abbrechen und in einen anderen Bereich wechseln. Wenn man nun berücksichtigt, dass auf der anderen Seite Gesundheitsminister Lauterbach nach wie vor das Steuerfüllhorn über der Pharmaindustrie ausschüttet und trotz eines bereits vorhandenen Überschusses an Impfstoff, der nicht oder kaum mehr an den Mann oder die Frau gebracht werden kann, für hunderte von Millionen Euro auf weiterer Einkaufstour unterwegs ist, der kann schnell den Eindruck gewinnen, dass das Urteil „staatstragend“ abgefasst ist. Das Bundesverfassungsgericht als „Hüterin der Verfassung“, so wie es im Jurastudium angehende Juristen dargestellt wird, wurde nach Meinung des Verfassers seiner Aufgabe nicht gerecht, denn die von der Politik und Presse gebildete Begrifflichkeit der „vulnerabler Gruppen“ ist zwar ein geflügeltes Wort, das geschwollen klingt und von der Mehrzahl der Bevölkerung ohnehin nicht verstanden wird, gleichwohl aber keine Rechtfertigung dafür, dass die Rechtsprechung ihrer Aufgabe Verwaltung und Politik zu überwachen und zu korrigieren, auf die Politik zurück verlagert, und dafür den Deckmantel der Entscheidungsbefugnis überstrapaziert. 75.000 Zuschauer in der Allianz Arena in München beim FC Bayern, gefüllte Clubs und eine geplante Neuauflage des Münchner Oktoberfest 2022 lassen sich, vulnerabler Gruppen hin oder her, nicht mit einer Rechtfertigung einer einrichtungsbezogene Impfpflicht und, was nur eine logische Konsequenz der Entscheidung wäre, eine Ausweitung einer solchen auf nun weitere zu bildende Gruppen, wie beispielsweise die Gruppe der über 60-jährigen, der über 50-jährigen, bis hin zur allgemeinen Impfpflicht rechtfertigen. Wenn Sie glauben, das würde sie nicht berühren, weil sie ja bereits dreifach geimpft, also geboostert sind, dann sollten Sie bedenken, dass durchaus die Möglichkeit besteht, dass der Geimpfte von heute der Ungeimpfte von morgen ist.
Der Rechtsstaat lebt davon, dass Bürger an die Kontrollfunktion der Gerichte glauben. Einer Stellung des Bundesverfassungsgerichts als Hüterin der Verfassung sind staatstragende Entscheidungen aber nicht zuträglich. Apropos Bundesverfassungsgericht: das oberste deutsche Gericht ist das einzige Gericht in Deutschland, das bislang nicht am elektronischen Rechtsverkehr teilnimmt, so dass Verfassungsbeschwerden stets analog, also in Papierform und zur Fristwahrung vorab per Telefax eingereicht werden müssen. Gerade bei Verfassungsbeschwerden gegen Urteile, bei denen eine Frist von lediglich einem Monat läuft, und dem Bundesverfassungsgericht in dieser Zeit nicht nur die Verfassungsbeschwerde, sondern alle für das Verfahren wesentlichen Schriftsätze und Unterlagen vorliegen müssen, weil das Bundesverfassungsgericht keine Verfahrensakte beizieht, hat auch dieser künstlich geschaffene Zeitdruck eine Filterfunktion, weil hiermit die Frist von einem Monat Bearbeitungszeit faktisch verkürzt wird. Die Begründung warum das Bundesverfassungsgericht nicht am elektronischen Rechtsverkehr teilnimmt, ist übrigens recht banal. Dies deshalb, weil es der Gesetzgeber bislang verabsäumt hat, das Bundesverfassungsgerichtgesetz an den elektronischen Rechtsverkehr anzupassen … Für ein Land, das zum einen in der Digitalisierung ohnehin bereits zurück hängt und diese Vorantreiben möchte, wirkt es schräg, wenn das oberste Gericht davon ausgenommen wird.