Wie heißt es so schön: wo kein Kläger da kein Richter. Geht es um die Bekämpfung von Covid 19, dann ist es zwischenzeitlich Usus, dass die Exekutive, also meist die jeweiligen Landesregierungen, Regelungen erlassen, die in dieser Form einer rechtlichen Nachprüfung durch die Justiz oft nicht standhalten. Deshalb hatte ein Gastronom aus Gießen auch erfolgreich gegen eine Sperrstundenregelung, die eine Sperrstunde ab 23:00 Uhr vorsah, im Rahmen eines vorläufigen Rechtschutzverfahren von dem Hessischen VGH (Beschluss vom 23. Oktober 2020 – 6 B 2551/20) obsiegt. Die Richter gaben dem klagenden Wirt recht, weil sie nicht erkennen konnten, dass der Verwaltungsentscheidung Erwägungen zu Erforderlichkeit und Angemessenheit der Maßnahme zugrunde gelegen hätten.
Allgemeinverfügung vom 05.10.2020 setzt Sperrzeit für das Gaststättengewerbe sowie öffentliche Vergnügungsstätten auf 23:00 Uhr fest
Der Landkreis Gießen hatte am 15.10.2020 eine Allgemeinverfügung mit einer Gültigkeit bis zum 01.11.2020 erlassen, in der die Sperrzeit für das Gaststättengewerbe sowie für öffentliche Vergnügungsstätten auf 23:00 Uhr festgesetzt wurde. Begründet wurde dies damit, dass aufgrund der derzeitigen Pandemielage durch das Coronavirus sich die Infektionslage innerhalb des Landkreises nachteilig entwickelt habe, so dass besondere Maßnahmen zur Eindämmung der weiteren Ausbreitung erforderlich sein.
VGH hält Allgemeinverfügung für unverhältnismäßig
Während der klagende Gastronom noch vor dem Verwaltungsgericht unterlegen war, hatte seine Beschwerde gegen den ablehnenden Beschluss vor dem VGH Erfolg. Die Richter waren dabei zu dem Ergebnis gelangt, dass die angegriffene Verfügung nicht mit dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit zu vereinbaren und damit rechtswidrig sei. Zur Begründung hat das Gericht ausgeführt, dass Erwägungen sowohl zu Erforderlichkeit als auch zur Angemessenheit der Maßnahme fehlten.
Keinerlei Erwägungen zu Erforderlichkeit
Die Erforderlichkeit setzt nämlich voraus, dass die Behörde unter mehreren in gleicher Weise geeigneten Maßnahmen das billigste Mittel wählt, also eine Maßnahme, die die Bürger am wenigsten belaste. Eine solche Prüfung habe überhaupt nicht stattgefunden. In der angegriffenen Allgemeinverfügung habe der Landkreis lediglich dargelegt, dass eine Vorverlegung der Sperrzeit im Vergleich zu einer vollständigen Schließung der Gastronomie das mildere Mittel sei. Mit möglichen milderen Mitteln, die in gleicher Weise zur Erreichung des Ziels geeignet sein können, haben sich die Behörde dagegen gar nicht auseinandergesetzt.
Angemessenheitsprüfung fehlt (auch) vollständig
Weiter haben die Richter ausgeführt, dass auch eine Prüfung der Angemessenheit, also eine Prüfung ob der Eingriff in angemessenem Verhältnis zu dem Gewicht und der Bedeutung des Grundrechts der Berufsfreiheit des Wirts stehe, fehlen völlig. Die Richter räumten zwar ein, dass die Verwaltungsbehörde ihre Ermessenserwägungen auch noch im Rahmen des verwaltungsgerichtlichen Verfahrens ergänzen könne. Allerdings sei der Vortrag des Landkreises im Beschwerdeverfahren nicht geeignet diese Anforderungen zu erfüllen. Soweit der Landkreis erstmalig im Rahmen des Beschwerdeverfahrens vorgetragen habe, weshalb ein strengeres Hygienekonzept oder ein Alkoholausschankverbot keine gleich effektiven mildere Mittel darstellten, habe sich der Landkreis lediglich mit dem Betriebskonzept der Antragstellerin und des von ihr praktizierten Hygienekonzepts auseinandergesetzt anstatt mit der Angemessenheit der Allgemeinverfügung.
Anmerkung:
Eine Allgemeinverfügung ist eine besondere Art eines Verwaltungsakts. Diese richtet sich nicht nur in eine Adressaten, sondern an einen nach allgemeinen Merkmalen bestimmten oder bestimmbaren Personenkreis. Da also die Behörde keinen individuell-konkreten Verwaltungsakt erlassen hatte, wäre es hier an ihr gewesen abstrakter zu formulieren und nicht nur bezogen auf den konkreten Einzelfall.
Auch, wenn durch den Lockdown light, der in ganz Deutschland nun ab dem 02.11.2020 in ganz Deutschland verhängt wird, der Erfolg des hier klagenden Wirtes nicht von großer Dauer war, so zeigt der Fall systematisch durch zweierlei.
Zunächst zeigt der Fall, dass eine Vielzahl der von der Exekutive getroffenen Maßnahmen die Grundrechte als wesentliche Wertentscheidung in Deutschland, und die überhaupt elementar für das funktioniert einer Demokratie sind, weitgehend unbeachtet lassen. Die Zahl der Gerichtsentscheidungen, die das Handeln der Verwaltung im Zusammenhang mit Corona korrigiert haben, wird zwischenzeitlich unüberschaubar. Es gibt aber sicherlich, und die Tendenz ist steigend, bereits 60-80 Gerichtsentscheidungen, mit denen behördliche Anordnungen, meistens wegen Verstoß gegen den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, gekippt worden sind. Da aber bekanntlich nur dort ein Richter ist, wo es auch einen Kläger gibt, und nicht gegen alles und jedes geklagt wird, bleibt viel im Graubereich.
Der Fall zeigt aber auch, dass die Exekutive offensichtlich mit der Situation völlig überfordert ist, will man nicht unterstellen, dass hier bewusst Recht gebrochen wird. Anders ist es nämlich nicht zu erklären, dass Verwaltungsbehörden, die nicht nur intern über eine Vielzahl von Juristen verfügen und auch extern jedes Jahr Millionenbeträge für Berater aus Großkanzleien ausgeben, Regelungen erlassen, denen bildlich gesprochen von vornherein die Rechtswidrigkeit auf die Stirn geschrieben steht. Der Fall verdeutlicht nämlich auch, dass losgelöst davon, dass für jeden einzelnen Kläger ein Rechtsstreit mit nicht unerheblichen Kosten verbunden ist und, da man vor Gericht und auf hoher See bekanntlich in Gottes Hand ist, nicht zwingend gesagt ist, dass der Fall auch auf dem Schreibtisch eines Richters oder einer Richterin landet, der oder die willens sind, das rechtswidrige Verwaltungshandeln zu korrigieren, Bürger quasi gezwungen werden einen Kampf gegen Windmühlen zu führen. Durch die Kurzlebigkeit der getroffenen Maßnahmen, währt nämlich im Erfolgsfall die Freude über den Sieg meistens nicht lang, weil schon, wie jetzt geschehen, die nächste Maßnahme kommt, die neuerlich in Grundrechte eingreift.
Da weder die ohnehin bereits arg gebeutelte Gastronomie noch Fitnessstudios in besonderem Maße als Treiber der Pandemie in Erscheinung getreten sind, sondern die sog. Hotspots, abgesehen von Schlachthöfen und Altenheimen, meist auf größere Feierlichkeiten im Familien- oder Freundeskreis zurückzuführen sind, sind nach Auffassung des Verfassers auch die nun insoweit getroffenen Schließungsanordnungen mit dem Wertekatalog unserer Grundrechte nicht zu vereinbaren. So mancher Gastronom, der faktisch dazu gezwungen wurde, um auch während der kalten Jahreszeit seine Freiflächen bedienen zu können, neue Elektroheizgeräte und Heizkissen anzuschaffen und obendrein noch einen Stromvertrag abzuschließen, der sicherstellt, dass die neu erworbenen Gerätschaften mit Ökostrom betrieben werden, wird sich zurecht auf den Arm genommen fühlen, wenn ihm jetzt erneut, ohne dass es in seinem Speiselokal überhaupt zu einem Infektionsgeschehen gekommen ist, neuerlich der Laden geschlossen wird. Auch, wenn vordergründig, zulasten neuer Staatsschulden, großzügig Entschädigungen in den Raum gestellt werden, wird dabei auch völlig ausgeblendet, dass sich Unternehmen, insbesondere in der Gastronomie, nicht einfach schließen und dann wieder öffnen lassen. Es ist nämlich nicht so, wie sich dies vielleicht so mancher unbedacht vorstellt, dass nach einer Schließung und anschließender Öffnung sofort wieder das Vorniveau erreicht wird. Für viele Betriebe, gleichgültig ob Gastronomie oder Fitnessstudios, ist dies ein Sterben auf Raten, den jede Schließung führt zu einem Reibungsverluste und damit auch zu einem Schwund von Gästen/Kunden. Aber, wie heißt es so schön, wo kein Kläger da kein Richter. Es bleibt also abzuwarten, ob auch diese Maßnahmen einer gerichtlichen Prüfung zugeführt werden und dann tatsächlich standhalten, oder aber weder als Behördenwillkür von der Justiz korrigiert werden.