Nun ist es amtlich. Mit Beschluss vom 04.10.2021 (20 N 20.762) hat der BayVGH in einer Hauptsacheentscheidung im Rahmen einer Normenkontrolle nach § 47 VwGO die Verhängung einer vorläufigen Ausgangssperre in Bayern im Zeitraum März und April 2020 für rechtswidrig und unwirksam erklärt. Das Gericht kann dabei zum Ergebnis, dass § 4 Abs. 2 Abs. 3 der Bayerischen Infektionsschutzmaßnahmenverordnung in ihrer damals geltenden Fassung gegen den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen habe und damit nicht geeignet gewesen sei Grundrechte rechtmäßig zu beschränken.
Strenge Ausgangsbeschränkungen ab 21.03.2020
Zur Erinnerung: die Bayerische Landesregierung hatte am 24. März 2020, rückwirkend zum 21. März 2020, eine Verordnung mit strengen Ausgangsbeschränkungen erlassen, wonach die eigene Wohnung nur verlassen durfte, wir einen triftigen Grund hatte, also etwa sich auf den Weg zur Arbeit, zum Einkaufen oder zum Arzt befand. Die Regelung war befristet bis zum 19.04.2020. Die Bayerische Staatsregierung, unter Führung von Ministerpräsident Markus Söder, war hier gleich zu Beginn der Pandemie nach vorne geprescht und mit der Verhängung einer nur in Bayern gelten Ausgangssperre über den damals gültigen Bund-Länder-Beschluss hinausgegangen.
Dagegen gerichtete Eilanträge blieben, wie oft in Sachen Corona, zunächst sowohl beim VGH als auch beim Bundesverfassungsgericht erfolglos.
Späte Genugtuung für Antragsteller
Nun, fast eineinhalb Jahre später, hat sich der VGH im Rahmen des Hauptverfahrens nochmals näher mit dem Schnellschuss des „Corona Hardliners“ Markus Söder befasst und zu guter Letzt dann doch recht deutliche Worte dafür gefunden, dass die Regelung unwirksam und damit nichtig war. Dieses Ergebnis kommt zwar für im Verwaltungs- und Verfassungsrecht wäre sie hätte Juristen nicht überraschend und dies obwohl bereits der VGH, aber auch das Bundesverfassungsgericht zuvor Eilanträge gegen die Ausgangssperre zurückgewiesen hatten.
Das Gericht billigt dem Verordnungsgeber zwar zu, da es sich bei der Corona-Pandemie um eine neuartige Bedrohung gehandelt habe, so dass der Bayerischen Staatsregierung aufgrund der unsicheren Lage ein Einschätzungsspielraum zugestanden hätte. Dieser könne aber gerichtlich überprüft werden.
Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht gewahrt
Eine Ausgangssperre, so das Gericht, sei zwar ein taugliches Mittel zur Kontaktreduzierung, es hätte aber gleich geeignete, weniger belastende Mittel zur Verfügung gestanden. Beispielsweise Kontaktbeschränkungen im öffentlichen Raum hätten den gleichen Effekt erzielen können, hätten aber den Aufenthalt im Freien weiter zugelassen. Dies hatte auch der Bund-Länder-Beschluss im März 2020 empfohlen.
Eine Rechtfertigung dafür, warum ein infektiologisch unbedeutendes Verhalten, wie das Verweilen alleine oder mit den Personen des eigenen Hausstandes im Freien außerhalb der eigenen Wohnung ebenso der Ausgangsbeschränkungen unterworfen worden sei, war für das Gericht jetzt nicht (mehr) nachvollziehbar. Dass dies erforderlich gewesen sei, um Ansammlungen im Freien zu vermeiden, vermochten die Richter nicht zu erkennen. Auch bezweifelten sie, ob die Bayerische Ausgangssperre überhaupt praktikabel durchgesetzt werden konnte und damit wirkungsvoll gewesen ist. Der Bundesgesetzgeber, so das Gericht, habe zwischenzeitlich auch in der Regelung des § 28a Abs. 2 Infektionsschutzgesetz festgelegt, dass Ausgangsbeschränkungen nur angeordnet werden können, wenn Kontaktbeschränkungen im öffentlichen und privaten Raum eine wirksame Eindämmung nicht mehr möglich erscheinen lassen, habe also gerade aus Gründen der Verhältnismäßigkeit seine Regelung entsprechend formuliert.
Anmerkung:
Jetzt könnte man natürlich sagen, hinterher ist man immer schlauer. Eine solche Sichtweise macht es sich aber zu einfach.
Eine staatlich verhängte Ausgangssperre ist ein so weitreichender Eingriff in die Grundrechte, dass – jedenfalls aus Sicht des Verfassers – bereits im März 2020 die Rechtswidrigkeit der getroffenen Regelung evident war. Dass damals die Gerichte die Verordnung nicht „kassiert“, sondern „staatstragend“ entschieden haben, ist einerseits erschreckend andererseits aber auch dem System des vorläufigen Rechtsschutzverfahrens im Verwaltungs- und Verfassungsrecht geschuldet. Dort wird regelmäßig lediglich eine Güterabwägung getroffen, in dem ein Gericht sich mit der Frage befasst, was wäre, wenn die Regelung Bestand hat, sich im Nachhinein aber als rechtswidrig bzw. nichtig erweist oder umgekehrt. Gerade vor dem Hintergrund, dass das System der Coronaschutzverordnungen stets so aufgebaut ist, dass diese zeitlich befristet sind, ein Eingriff also (ungeachtet der praktizierten Möglichkeit der Verlängerung) nur von vorübergehender Natur ist, hatten und haben viele Gerichte ihre Probleme damit sich für die Freiheit und damit gegen die staatlich verordnete „Schutzmaßnahme“ zu entscheiden. Für die Antragsteller der dortigen Verfahren ist es eine späte, wenn auch in der Sache unbedeutende Genugtuung. Denn wenn der VGH, so wie hier, nachträglich eine Verordnung für unwirksam erklärt, dann hat eine solche Entscheidung nur noch feststellen Charakter. Aktiver Grundrechtsschutz ist damit nicht gegeben. Der Bürger wird zum Spielball staatlicher Willkür, den, obwohl er in der Sache recht hat, verliert er das Eilverfahren und trägt dafür (zunächst) auch noch die Verfahrenskosten. Hierdurch werden Bürger nicht nur davon abgehalten bei Gericht im Rechtsschutz nachsuchen, denn nicht jeder ist in der Lage auf die Schnelle einige 1.000 € in den Sand zu setzen, sondern er läuft sich in den Mühlen der Justiz langsam tot, ähnlich wie im Märchen der Gebrüder Grimm beim Wettlauf zwischen dem Igel und dem Hasen.
Mit der Entscheidung des VGH ist aber wohl noch nicht das letzte Wort gesprochen, denn wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache haben die Richter die Revision zum Bundesverwaltungsgericht zugelassen. Die Bayerische Staatsregierung hat sich zwischenzeitlich auch von der Entscheidung wenig beeindruckt dahingehend geäußert, dass sie auch diesen Weg beschreiten wird. Von Einsicht und Bedauern also keine Spur.