In einer Welt, in der Digitalisierung gleichbedeutend mit Fortschritt und Wohlstand ist, stellt sich die Justiz als ein bedeutender Bereich dar, in dem diese Entwicklung zunehmend an Bedeutung gewinnt. Die Einführung von elektronischer Kommunikation und die Möglichkeit, per Video zu verhandeln, sind gesetzliche Neuerungen, die dieser Entwicklung Rechnung tragen. Allerdings zeigt die Praxis, dass zwischen Theorie und Umsetzung oft eine große Lücke klafft.
Die elektronische Akte: Zwischen Anspruch und Wirklichkeit
In Sachen Digitalisierung stehen wir als Anwälte regelmäßig an vorderster Front. Viele Kanzleien arbeiten bereits seit längerem ausschließlich mit digitalen Akten, kommunizieren mit Ihren Mandanten überwiegend elektronisch und besprechen sich intern und extern per Videokonferenz. Kraft Gesetzes sind Anwälte auch seit längerem verpflichtet mit der Justiz ausschließlich elektronisch zu kommunizieren. beA lautet die Abkürzung für das besondere elektronische Anwaltspostfachs, dass zunächst genutzt werden konnte und dann verpflichtend genutzt werden musste.
Auf Seiten der Justiz sieht dies dagegen teilweise ganz anders aus. So hat beispielsweise die SZ in ihrer Ausgabe vom 29.11.2023 über die kürzliche Einführung der elektronischen Akte am Amtsgericht Wolfratshausen in den Bereichen Zivilrecht und Familienrecht berichtet. Bislang war es so, wie an vielen Gerichten, dass das, dass wir Anwälte elektronisch geliefert haben, dort ausgedruckt und auf Papierakten verteilt worden ist. Selbst nach Einführung der elektronischen Akte, betrifft dies bei der Justiz aber regelmäßig nur Neueingänge. Laufende Verfahren werden weiter nach dem bisherigen Schema geführt, also Ausdruck und Papierakte. Im Bereich Strafrecht soll die elektronische Akte in Wolfratshausen gar erst 2025 einzuhalten. Wolfratshausen ist dabei kein Einzelfall, sondern dies ist Praxis an vielen deutschen Gerichten.
Bei Gerichten, bei denen kein Anwaltszwang besteht, Amtsgerichten und Arbeitsgerichten, kann jedermann, mit Ausnahme von Anwälten, analoge Post einreichen. Macht dies dagegen ein Rechtsanwalt, dann wird seine Post so behandelt, als wenn sie nicht eingegangen wäre, also beispielsweise laufende Fristen nicht gewahrt. Wenn man nun berücksichtigt, dass dies auch für solche Verfahren gilt, bei denen das Gericht ohnehin die elektronisch eingehende Post wieder ausdruckt, um die laufende Akte analog weiterzuführen, dann erschließt sich die Sinnhaftigkeit einer solchen Regelung wieder auf den ersten noch auf den 2. Blick. Erst recht, wenn man bedenkt, was für ein Aufwand für Rechtsanwälte damit einhergeht, wenn die EDV einmal nicht funktioniert und dann zusätzlich zu der laufenden Frist auch noch genau dokumentiert werden muss, was wann wie nicht funktioniert hat, um für den Fall der Fristversäumnis eine Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu bekommen.
Die Videoverhandlung: Ein Schritt in die richtige Richtung mit Vorbehalten
Die Möglichkeit der Videoverhandlung, wie in § 128a ZPO festgelegt, wurde als eine effektive Maßnahme zur Modernisierung der Justiz und zur Unterstützung des Klimaschutzes gesehen. Der Pferdefuß liegt allerdings darin, dass die Entscheidung darüber, ob per Video verhandelt wird oder nicht, der Gesetzgeber nicht nur dem einzelnen Richter und der Einzelrichterin übertragen hat, sondern eine solche Entscheidung, mag sie auch noch so fehlgeleitet sein, nicht angreifbar ist. Dies bedeutet, dass dann, wenn ein Richter oder eine Richterin sich der neuen Technologie grundsätzlich versperrt, weil kein Vertrauen in die eigenen EDV-Kenntnisse besteht oder einfach der damit verbundene (geringe) Mehraufwand nicht erbracht werden will, dann ist dies bis zur Pensionierung in Stein gemeißelt. So hat beispielsweise der Verfasser erst heute einen ablehnenden Beschluss vom Landgericht Augsburgs erhalten, in dem die zuständige Richterin die Ablehnung damit begründet hat, nicht etwa, dass sich der Fall aufgrund der Komplexität nicht für eine Videoverhandlung eignen würde, sondern damit, dass die für sie damit einhergehende Aufwand im Verhältnis zu der Fahrzeit, die die Beteiligten von Wolfratshausen bzw. Landsberg nach Augsburg hätten (diese beträgt einfach bei guten Verkehrsverhältnissen jeweils etwas über 1 Stunde) von ihr als nicht “sachgerecht erachtet“ wird. Der Aufwand der Richterin die Verhandlung als wie die Konferenz durchzuführen, dürfte selbst jemanden, der in technischen Dingen nicht visiert ist, irgendwo im Bereich zwischen 10 und 15 Minuten liegen. Im Vergleich dazu fahren 2 Parteien und 2 Anwälte in der Gesamtheit mehrere 100 km und mehrere Stunden durch Deutschland? Auch hier wird deutlich, dass die richterliche Unabhängigkeit und das Verständnis darüber, was „sachgerecht“ ist, für Otto Normalverbraucher mit normalen Maßstäben kaum greifbar ist.
Fazit: Digitalisierung in der Justiz – Ein Weg mit Hindernissen
Die Digitalisierung in der Justiz, einschließlich der Einführung der elektronischen Akte und der Videoverhandlung, ist ein Schritt in die richtige Richtung. Sie bietet das Potential, den Gerichtsbetrieb effizienter, umweltfreundlicher und zeitgemäßer zu gestalten. Jedoch zeigen Beispiele aus der Praxis, dass zwischen der gesetzlichen Regelung und der tatsächlichen Umsetzung deutliche Diskrepanzen bestehen. Insbesondere die Abhängigkeit von der Bereitschaft einzelner Richter, sich auf neue Technologien einzulassen, stellt eine signifikante Barriere dar. Es ist daher unerlässlich, dass Justizbehörden und Gerichte nicht nur in Technologie investieren, sondern auch in die Schulung und Ermutigung ihrer Mitarbeiter, diese Innovationen zu nutzen. Nur dadurch kann gewährleistet werden, dass die Digitalisierung in der Justiz ihr volles Potential entfaltet. Ansonsten verkommt gerade die Möglichkeit der Videoverhandlung zu einem Roulettespiel, je nachdem, wie aufgeschlossen der einzelnen Richter technischem Fortschritt gegenübersteht. Zeit ist ein rares Gut. Deshalb ist es ärgerlich, wenn Lebenszeit deshalb verschwendet wird, weil im Einzelfall es nicht als sachgerecht erachtet wird, einfach gelagerte Sachverhalte per Video zu verhandeln und stattdessen die Beteiligten Stunden ihres Lebens nutzlos in Verkehrsmitteln verbringen müssen. Gemeinschädlich ist es darüber hinaus auch, weil Fahrzeit regelmäßig vergeudete Arbeitszeit ist und vergeudete Arbeitszeit nicht nur weniger Einkommen für den Einzelnen bedeutet, sondern auch weniger Steuern für die Allgemeinheit. Dass die Umweltbilanz einer Videoverhandlung deutlich besser ist, als die einer Präsenzverhandlung steht außer Frage.