Urteile, gleichgültig ob sie gerecht oder ungerecht richtig oder falsch sind, sind meist in Stein gemeißelt, jedenfalls dann, wenn der Rechtsweg ausgeschöpft ist und kein Rechtsmittel mehr zur Verfügung steht, das Urteil also rechtskräftig ist.
Aber was ist, wenn ein solches letztinstanzliches Urteil rechtswidrig ist, weil es gegen Unionsrecht verstößt und deshalb bei dessen Beachtung so nicht hätte erlassen werden dürfen? Nichts. Es hat damit sein bewenden.
Diese, für den juristischen Laien nur schwer zu verstehende Erfahrung musste nunmehr ein Steuerzahler machen, der zunächst erfolglos bis vor den BFH geklagt hatte, weil das Finanzamt Schulgeldzahlungen, die der Kläger an eine Privatschule in Großbritannien im Steuerjahr 1992 gezahlt hatte, nicht als Sonderausgaben anerkennen wollte. Der BFH wies im Jahr 1997 die Revision des Klägers gegen das klageabweisende Urteil des Finanzgerichts zurück, ohne die Streitsache dem EuGH vorzulegen.
Im September 2007 hat dann der EuGH entschieden, dass die Dienstleistungsfreiheit verletzt werde, wenn Schulgeld nur bei Zahlungen an inländische Privatschulen als Sonderausgaben abziehbar sei.
Der seinerzeit unterlegene Kläger glaubte sich nun im Recht und stellte beim Finanzamt den Antrag auf Änderung seines Steuerbescheids für das Jahr 1992, was aber seitens des Finanzamts abgelehnt worden ist. Da er sich dies Europa rechtswidrige Verhalten nicht bieten lassen wollte, zog er erneut vor Gericht. Auch diesmal ohne Erfolg. Klage und Nichtzulassungsbeschwerde wurden zurückgewiesen. Mit Urteil vom ein 20.01.2015 (X R 40/12) hat der BFH sich neulich mit der Angelegenheit befasst und entschieden, dass es weder ermessensfehlerhaft war noch es gegen Unionsrecht verstoße, wenn die Finanzverwaltung eine Steuer nicht erstattet, die auf einem zwar unionsrechtswidrigen, aber durch letztinstanzliches Urteil des BFH bestätigten Steuerbescheid beruht.
Bei einem Steuererlass aus sachlichen Billigkeitsgründen seien die Wertungen des deutschen Gesetzgebers sowie Unionsrecht zu beachten, so die Richter. Der Bestands- und Rechtskraft komme im deutschen Verfahrensrecht ein hoher Stellenwert zu. Auch nach Auffassung des EuGH bestehe keine grundsätzliche Verpflichtung, eine unionsrechtswidrige, aber rechtskräftige Entscheidung aufzuheben, selbst wenn die Vorlagepflicht verletzt worden sei. Die Mitgliedstaaten müssen jedoch das Äquivalenzprinzip sowie den Effektivitätsgrundsatz beachten, d. h. sie haften bei Verletzungen gegen das Unionsrecht und müssen derartige Verletzungen wie Verstöße gegen nationales Recht behandeln. Bei unionsrechtswidrigen Urteilen haften sie aber nur bei einer offenkundigen Verletzung des Unionsrechts.
Eine solche hat der BFH im Streitfall verneint. Der BFH habe im Jahr 1997 weder unter offenkundiger Verkennung des Unionsrechts den Anwendungsbereich der Dienstleistungsfreiheit für Bildungsleistungen der Privatschulen zu Unrecht verneint noch offenkundig seine Vorlagepflicht verletzt. Die Weigerung des FA, die Steuern aus Billigkeitsgründen zu erlassen, sei daher nicht ermessensfehlerhaft.
Nach Auffassung des BFH bestand auch keine Veranlassung, im Streitfall ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH zu richten. Die Überprüfung behördlicher Ermessensentscheidungen obliege – auch nach der Rechtsprechung des EuGH – den nationalen Gerichten.
Anmerkung:
Der deutsche Gesetzgeber hat mit dem Jahressteuergesetz 2009 auf die EuGH-Rechtsprechung zu Schulgeldzahlungen reagiert. Seither sind nach § 10 Abs. 1 Nr. 9 EStG auch Schulgeldzahlungen an Privatschulen in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union oder in einem Staat des Europäischen Wirtschaftsraumes in einem bestimmten Umfang als Sonderausgaben abziehbar.
(Quelle: Auszug aus einer Pressemitteilung des Bundesfinanzhofs)