Im Kampf um das Recht geht es manchmal im Gerichtssaal hoch her. Dies nicht nur, weil der Prozessstoff emotionsgeladen ist, sondern weil manchmal auch Prozessleitung oder Rechtsverständnis des befassten Gerichts bei den Beteiligten und ihren Rechtsvertretern auf Unverständnis stößt.
Während bislang der Grundsatz galt, dass Rechtsanwälte im Rahmen ihrer Berufsausübung auch scharfe, polemische und auch überspitzte Kritik äußern dürfen, solange diese nicht ausschließlich herabwürdigen ist, hat nun der Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte (EGMR) in einer Entscheidung vom 8. April 2025 in der Rechtssache Backović v. Serbia (Nr. 2) (Beschwerdenr. 47600/17) die Verhängung einer Geldbuße gegen einen Rechtsanwalt, der das Urteil eines serbischen Gerichts als „höchsten Unsinn“ und die Richter als „juristische Genies“ bezeichnet hat, Und gegen den deshalb eine Geldbuße denkt worden war, entschieden, dass diese Sanktion keine Verletzung von Art. 10 EMRK darstellt, da die Äußerungen des Anwalts die Professionalität der Richter herabgewürdigt hätten und die Maßnahme verhältnismäßig gewesen sei. Der streitbare Rechtsanwalt sah seine Äußerungen von der Meinungsfreiheit gedeckt. Diese sei ein zentrales Grundrecht in demokratischen Gesellschaften und für Rechtsanwälte ein unverzichtbares Instrument zur Wahrung der Interessen ihrer Mandanten. Das Urteil des EGMR wirft über den entschiedenen Fall hinaus nun Fragen auf, inwieweit Anwälte ihre Kritik an gerichtlichen Entscheidungen noch äußern dürfen, ohne Sanktionen befürchten zu müssen. In diesem Artikel wird das Urteil kritisch analysiert und die Bedeutung der sogenannten „Richterschelte“ im Kontext der anwaltlichen Meinungsfreiheit beleuchtet.
Richterschelte und ihre Grenzen
Nach § 1 BRAO ist der Rechtsanwalt in Deutschland ein unabhängiges Organ der Rechtspflege und nach § 3 Abs. 1 BRAO der berufene unabhängige Berater und Vertreter in allen Rechtsangelegenheiten. Diese Stellung im Rechtsstaat bringt es mit sich, dass Anwälte die Rechtsposition Ihre Mandantschaft unnachgiebig vertreten und sich auf Augenhöhe mit den Gerichten bewegen. Diese Aufgabe ist immanent, dass geäußerte Rechtsauffassungen eines Gerichts nicht stets als unumstößlich akzeptiert werden, sondern zur Stellung eines Rechtsanwalts im Verfahren gehört es auch sich, bei Bedarf kritisch mit Äußerungen in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht auseinanderzusetzen. Doch wo sind die Grenzen? Ist im Kampf ums Recht wirklich (fast) alles erlaubt?
Was ist Richterschelte?
Der Begriff „Richterschelte“ bezeichnet kritische Äußerungen über Richter oder deren Entscheidungen. In Deutschland ist die Meinungsfreiheit durch Art. 5 Abs. 1 GG geschützt, jedoch findet sie ihre Schranken in den allgemeinen Gesetzen, insbesondere in den §§ 185 ff. StGB (Beleidigung, üble Nachrede, Verleumdung).
Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat wiederholt betont, dass auch polemische und überspitzte Kritik von der Meinungsfreiheit gedeckt sein kann, solange sie nicht die Grenze zur Schmähkritik überschreitet. In der Entscheidung 1 BvR 362/18 hob das BVerfG die Verurteilung eines Anwalts auf, der einen Behördenmitarbeiter als „bösartig“ und „asozial“ bezeichnet hatte. Das Gericht forderte eine sorgfältige Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und Persönlichkeitsrecht – ein Maßstab, der beim EGMR-Urteil Backović zweifelhaft angewendet wurde.
Kritik am EGMR-Urteil
Das Urteil steht im Spannungsverhältnis zu früheren Entscheidungen wie Ceferin v. Slovenia (Nr. 40975/08), Radobuljac v. Croatia (Nr. 51000/11), Lutgen v. Luxembourg (Nr. 36681/23) und Pisanski v. Croatia (Nr. 28794/18). In diesen Fällen wurde anerkannt, dass Anwälte im Rahmen ihrer Berufsausübung auch scharfe Kritik äußern dürfen, solange sie nicht ausschließlich herabwürdigend ist.
Im Fall Backović wurde hingegen die Kritik als Angriff auf die Autorität des Gerichts gewertet, ohne zu prüfen, ob sie im Interesse der Mandatswahrnehmung stand. Die Geldbuße wurde als verhältnismäßig angesehen, obwohl sie eine abschreckende Wirkung auf andere Anwälte haben könnte und somit ein „chilling effect“ im Sinne von Art. 10 EMRK zu befürchten ist.
Anforderungen an die Justiz in einer offenen Gesellschaft
Justiz muss Kritik aushalten
In einer offenen, rechtsstaatlichen Gesellschaft muss die Justiz sachliche – auch scharfe – Kritik ertragen können. Gerichte sind nicht unfehlbar. Anwälte, als Organe der Rechtspflege, erfüllen eine besondere Funktion, wenn sie auf vermeintliche Fehler sachlich, überspitzt oder aber auch polemisch hinweisen, um die Rechte ihrer Mandanten zu wahren.
Berufsrechtliche Schranken
Die Bundesrechtsanwaltsordnung (BRAO) und die Berufsordnung für Rechtsanwälte (BORA) sehen ebenfalls berufsrechtliche Grenzen vor. Doch diese dürfen nicht dazu genutzt werden, unliebsame Stimmen mundtot zu machen. Die Grenze sollte dort gezogen werden, wo es nicht mehr um die Sache geht, sondern lediglich um die Diffamierung der Justiz.
Fazit
Das Urteil des EGMR in der Rechtssache Backović v. Serbia (Nr. 2) setzt einen fragwürdigen Akzent bei der Abwägung zwischen Meinungsfreiheit und richterlicher Autorität. Zwar ist der Schutz der Justiz ein legitimes Ziel, doch dürfen Gerichte keine „Schonräume“ beanspruchen, die ihnen eine Immunität gegen Kritik verschaffen. Die Meinungsfreiheit, insbesondere für Rechtsanwälte, ist ein konstitutives Element rechtsstaatlicher Kontrolle. Eine zu enge Auslegung riskiert, die Rolle der Anwaltschaft als kritisches Korrektiv zu schwächen.