Meinungsfreiheit ade? Vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand. Das, was man manchmal bei Gericht erlebt, geht aber weit über das hinaus, was für den gesunden Menschenverstand noch tolerierbar ist. Deswegen hat ein Anwalt eine Gerichtsverhandlung in einem Schreiben an den Gerichtspräsidenten, das er nach Abschluss der Verhandlung verfasst hatte, mit dem „Musikantenstadl“ verglichen. Er hatte dabei u.a. ausgeführt:
„Der Verlauf der mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht P. glich dann schon dem, was ich als Musikantenstadel bezeichnen möchte. Kein vernünftiges Eigenargument auf Seiten des Richters, aber eine Gesamtsicht der Dinge. Es wird mir ein ewiges Rätsel bleiben, wie es möglich ist, dass aus nicht einem einzigen stichhaltigen Argument eine stichhaltige Gesamtsicht zusammengenäht – halt besser: zusammengeschustert – wird. (…)“.
Wer nun meint, es hätte damit sein Bewenden, dass der Anwalt seinem Unmut kundgetan hat, oder der Präsident habe sich gar den Richter, der den Unmut des Anwalts erregt hatte, zur Brust genommen, der irrt. Denn nun wurde gegen den Anwalt ein Strafverfahren eingeleitet und er wurde vom AG Gera wegen Beleidigung zu einer Geldstrafe von 15 Tagessätzen zu je 30 € verurteilt.
Da auch das LG Gera offensichtlich wenig Sinn für Humor und auch nicht für die Meinungsfreiheit des Anwalts hatte, blieb es zunächst bei der Verurteilung und der streitbare Advokat zog vors Bundesverfassungsgericht.
BVerfG sieht Meinungsfreiheit verletzt und kassiert Strafurteil
Dort sahen die Richter die Sache etwas anders und haben mit Beschluss vom 06.06.2017 (1 BvR 180/17) das Urteil aufgehoben und zur erneuten Entscheidung zurückverwiesen.
Die Richter haben dabei darauf hingewiesen, dass durch die Verurteilung wegen Beleidigung das Grundrecht der Meinungsfreiheit verletzt sei, wenn das Gericht bei der Abwägung nicht hinreichend berücksichtigt habe, dass die Reichweite der Meinungsfreiheit auch die Kritik bereits abgeschlossener Verfahren decke und der Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Richters nur eine geringe Außenwirkung entfalte, wenn die Äußerung, so wie hier, nicht öffentlich gefallen sei.
Die Vorinstanzen hätten deshalb die Reichweite der Meinungsfreiheit verkannt. Diese erlaube es nämlich nicht, den Beschwerdeführer auf das zur Kritik am Rechtsstaat Erforderliche zu beschränken und ihm damit ein Recht auf polemische Zuspitzung abzusprechen. Richter müssen also Kritik aushalten, auch wenn sie gegenüber ihrem Gerichtspräsidenten geäußert wird.
Meinungsfreiheit ist in der freiheitlich demokratischen Grundordnung ein Grundrecht von hohem Rang
Erschreckend ist, dass nicht nur die Staatsanwaltschaft, bei dem der Vorfall zur Anzeige gebracht worden ist, sondern auch zwei Gerichte offensichtlich so wenig von der Meinungsfreiheit halten, dass die Gerichtsschelte durch den Anwalt nicht nur zur Anklage gebracht, sondern auch zu einer Verurteilung geführt hat. Dies deshalb, weil jeder Jurastudent bereits zu Beginn seines Studiums lernt, dass gerade die Meinungsfreiheit in einem demokratischen System unverzichtbar und deshalb ein Grundrecht von besonders hohem Rang ist, so dass bei einer vorzunehmenden Abwägung gegen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Richters (die jedenfalls dann vorzunehmen ist, wenn man eine Verletzung des Persönlichkeitsrechts überhaupt bejaht) offensichtlich ist, dass letzteres zurückzutreten hat.
Den Schaden hat der Steuerzahler, der mit seinen Steuergeldern solche sinnentleertem Verfahren finanziert und das obwohl die Justiz landauf und landab chronisch überlastet ist und sicherlich anderes zu tun hätte als polemisch-kritische Anwälte zu verfolgen.