Im deutschen Zivilrecht gilt der Grundsatz der Privatautonomie. Dies bedeutet, dass die Vertragsparteien bis zur Grenze der Sittenwidrigkeit, § 138 BGB, frei darin sind den Inhalt der Verträge autonom zu bestimmen. Ein staatlich verordneter Mindestlohn stellt bereits aus diesem Grund einen Eingriff in die Vertragsautonomie dar, in dem der Staat vorschreibt, welchen Geldbetrag eine Arbeitsleistung mindestens wert sein muss. Zum 01.10.2022 ist der Mindestlohn, der bereits zum 01.07. auf 10,45 € erhöht worden war, erneut gestiegen, und zwar jetzt auf 12 €. Bundesarbeitsminister Heil bezeichnet die Steigerung als „historisch“. Um nicht falsch verstanden zu werden: jedem Mindestlohnempfänger sei seine Lohnerhöhung von Herzen gegönnt. Doch führt die Steigerung dazu, dass am Ende bei den Arbeitnehmern mehr Kaufkraft zur Verfügung steht oder wird am Ende gar das Gegenteil erreicht?
Von 1672 € brutto auf 1920 € brutto aus Arbeitnehmersicht
Auf dem Papier bedeutet der Anstieg des Mindestlohns – bezogen auf eine Vollzeitbeschäftigung mit 160 Arbeitsstunden im Monat, einen Lohnzuwachs von 248 €. Zahlenmäßig erhält damit also die Gruppe der Mindestlohnempfänger auf jeden Fall mehr, auch wenn dieser absolute Zahlbetrag bei den wenigsten Menschen, die für Mindestlohn arbeiten, nicht ankommen wird, weil diese regelmäßig nicht in Vollzeit, sondern in Teilzeit oder Minijobs tätig sind.
Geld hat für sich gesehen aber keinen Wert, sondern maßgeblich, gleichgültig ob jemand 10 € oder 100 € verdient, ist die Kaufkraft, die dahintersteht.
Hinzu kommt, dass durch das neue Bürgergeld einerseits und steigende Energiekosten andererseits ohnehin Mindestlohnempfänger eine aussterbende Spezies sein werden, weil sich früher oder später jeder Arbeitnehmer, der für Mindestlohn arbeitet, die Frage stellen wird, ob am Ende überhaupt noch einen Arbeitsanreiz hat, oder sich ohne wirtschaftlichen Mehrnutzen, den Mühen eines Erwerbslebens aussetzt. Dies jedenfalls dann, wenn er über kein Vermögen verfügt, dass über den Schonvermögen liegt, was bei Mindestlohnempfängern regelmäßig nicht der Fall sein dürfte.
248 € mehr an Lohn aus Arbeitgebersicht
Eine Mehrbelastung mit monatlich 248 € pro Mindestlohn-Arbeitnehmer zuzüglich Sozialversicherungsbeiträgen bedeutet für Arbeitgeber dagegen zunächst eine Schmälerung des Unternehmergewinns. Kann oder möchte ein Arbeitgeber dies nicht dauerhaft aus dem Gewinn des Unternehmens tragen, was regelmäßig der Fall sein wird, dann kann er nur auf zweierlei Weise reagieren, nämlich entweder nun selbst seinerseits die Preise erhöhen, also seine Waren oder Dienstleistungen verteuern oder aber, wenn dies im Markt nicht möglich ist, versuchen anderweitig die Lohnkosten zu senken. Letzteres kann dadurch geschehen, dass entweder die Arbeitszeit entsprechend verringert wird, so dass am Ende die finanzielle monatliche Belastung wieder gleichbleibt oder aber der Arbeitgeber wird hinterfragen, ob zu diesem Preis die Tätigkeit überhaupt noch erforderlich ist und falls nicht, das Arbeitsverhältnis beenden.
Nachdem aber jeder Arbeitgeber ähnlich reagieren wird, führt dies am Ende dazu, dass diejenigen, in deren Interesse ein staatlicher Eingriff in das Lohngefüge stattgefunden hat, am Ende nicht mehr an Kaufkraft zur Verfügung haben als zuvor, weil entweder das mehr an Lohn durch allgemeine Preissteigerungen (Inflation) aufgezehrt wird oder aber das mehr an Lohn gar nicht beim ankommt, weil der Arbeitgeber die Arbeitszeit reduziert oder aber den Mindestlohnempfänger gleich entlässt.
Sonstige Auswirkungen
Erhöhungen des Mindestlohns haben, jedenfalls dann, wenn kein großer Abstand zur übrigen Belegschaft besteht, regelmäßig einen Dominoeffekt, weil diejenigen, die im unteren Lohnsegment über Mindestlohn verdient haben, nun näher an den Mindestlohn heranrücken und über kurz oder lang darauf bestehen werden, dass die ursprüngliche Abstand zu Mindestlohn wiederhergestellt wird. Die Spirale erhöhte Lohnkosten durch Preiserhöhungen oder Personalabbau zu kompensieren, dreht sich also weiter.
„Gewinner“ ist, wie stets, der Fiskus, der bei steigenden Löhnen sich über erhöhte Einnahmen an Lohnsteuer und Einkommensteuer und bei steigenden Preisen an Mehrwertsteuer erfreuen kann. Durch dieses in Gang gesetzte Perpetuum Mobile steigen, ohne dass mir wirtschaftliche Leistungskraft dahinter stünde, kontinuierlich die Staatseinnahmen, während bei Arbeitnehmern und Arbeitgebern gleichermaßen am Ende das ganze bestenfalls als Null-Summen-Spiel endet. Lohnerhöhungen historischen Ausmaßes gab es übrigens auch schon genau vor 100 Jahren. Am 04.10.1922 hatten Bergarbeiter in Deutschland eine Lohnerhöhung von 24,7 % durchgesetzt, was eine erhebliche Steigerung der Kohlenpreise zur Folge hatte, worüber die FAZ heute berichtet hat. Also merke: Zahlen sind flüchtig, Kaufkraft ist wichtig. Und genau hier liegt augenblicklich einiges im Argen.