Rechtsanwälte arbeiten meistens, jedenfalls dann, wenn sie gut ausgelastet sind, unter Zeitdruck. Dazu gehört auch, dass vom Gericht gesetzte Fristen ausgereizt, d. h. Schriftsätze erst am Tag des Fristablaufs vorab per Telefax bei Gericht eingereicht werden. Dies ist in der Praxis üblich und auch nicht zu beanstanden. Was aber ist, wenn ein Gericht einen solchen Schriftsatz, hier eine Klageerwiderung, der ausweislich des Faxes Sendeprotokoll rechtzeitig bei Gericht eingegangen ist, nicht berücksichtigt, sondern nur nach der Klageschrift den Beklagten verurteilt? Sie werden es schon vermuten, dass dies nicht rechtens sein kann. Erstaunlich ist allerdings, dass dies erst durch das Bundesverfassungsgericht (Beschluss vom 1. Oktober 2019,1 BvR 552/18) einem Amtsrichter erklärt werden muss.
Amtsgericht entscheidet ohne Berücksichtigung der vor Fristablauf per Telefax übermittelten Klageerwiderung
Im Ausgangsrechtsstreit hatte ein Vermieter mit einem Mieter vor dem Amtsgericht über eine Nebenkostenabrechnung gestritten. Das Gericht wollte im vereinfachten Verfahren nach § 495 a ZPO nach billigem Ermessen ohne mündliche Verhandlung entscheiden und setzte der Beklagten eine Frist von 2 Wochen auf die Klage zu erwidern.
Das Gericht wartete dann aber selbst die gesetzte Frist nicht ab, sondern hat bereits einen Tag vor Fristablauf sein Urteil erlassen und der Klage stattgegeben.
Anhörungsrüge (überraschend) nicht erfolgreich
Gegen das Urteil hat die unterlegene Beklagte zunächst eine sog. Anhörungsrüge nach § 321 a Abs. 1 S. 1 ZPO erhoben. Sie beanstandete dabei nicht nur, dass das Gericht noch vor Ablauf der gesetzten Frist entschieden hat, sondern trug unter Vorlage eines entsprechenden Faxsendeberichts auch vor, dass noch vor Fristablauf, also rechtzeitig per Telefax eine Klageerwiderung beim Amtsgericht eingegangen sei, die bei der Entscheidung nicht berücksichtigt wurde. Bei Berücksichtigung des Vortrags der Beklagten in der Klageerwiderung hätte nämlich die Klage abgewiesen werden müssen.
Das Amtsgericht zeigte sich aber uneinsichtig und wies die Anhörungsrüge durch Beschluss zurück. Es räumte zwar ein, dass das Urteil vor Ablauf der gesetzten Frist erlassen worden war. Dadurch sei aber nicht das Recht der Beklagten auf rechtliches Gehör verletzt worden, denn diese haben nicht innerhalb der gesetzten Friststellung genommen, sondern sich erstmalig in ihrer Anhörungsrüge zum Klageanspruch geäußert. Die Anhörungsrüge sei aber erst nach Ablauf der Klagerwiderungsfrist bei Gericht eingegangen, so das das Vorbringen nicht habe berücksichtigt werden müssen. Damit, dass die Beklagte zum Nachweis der rechtzeitigen Einreichung der Klageerwiderung einfach Sendeprotokoll vorgelegt hatte, setzte sich das Amtsgericht in dem nun mit der Verfassungsbeschwerde angegriffene Beschluss nicht auseinander.
BVerfG: Amtsgericht hat Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG verletzt
Die Beklagte hat nun mit der Verfassungsbeschwerde zum des Verfassungsgericht mit Erfolg die Verletzung ihres Anspruchs auf rechtliches Gehör aus Art. 103 Abs. 1 GG gerügt. Die Verfassungsrichter waren nämlich der Meinung, dass das Amtsgericht dieses grundrechtsgleiche Gericht verletzt hat und haben dazu ausgeführt:
„Die Garantie des rechtlichen Gehörs verpflichtet das Gericht, die Ausführungen der Prozessbeteiligten zur Kenntnis zu nehmen und in Erwägung zu ziehen (vgl. BVerfGE 70, 288 <293>; 96, 205 <216>). Dementsprechend verletzt es das rechtliche Gehör, wenn ein Gericht einen ordnungsgemäß eingereichten Schriftsatz unberücksichtigt lässt (vgl. BVerfGE 67, 199 <201 f.>; 72, 119 <121>). Art. 103 Abs. 1 GG gewährt jedoch keinen Schutz dagegen, dass ein Gericht Sachvortrag aus Gründen des formellen oder materiellen Rechts ganz oder teilweise außer Betracht lässt (vgl. BVerfGE 70, 288 <294>; 96, 205 <216>).“
Weiter haben die Verfassungsrichter klargestellt, dass an Präklusionsvorschriften wie § 296 Abs. 1 ZPO, weil diese Ausnahmecharakter haben, strenge Anforderungen zu stellen sind, die vorliegend nicht vorgelegen hätten, so dass das Amtsgericht diese Vorschrift zu Unrecht angewandt hatte. Das Amtsgericht habe nämlich nicht im gebotenen Umfang aufgeklärt, ob die Beschwerdeführerin gegen ihre Pflicht zur sorgfältigen Prozessführung verstoßen habe.
„Für den rechtzeitigen Zugang eines gefaxten Schriftsatzes bei Gericht genügt dessen Zwischenspeicherung im Empfangsgerät (vgl. BGH, Beschlüsse vom 25. April 2006 – IV ZB 20/05 -, BGHZ 167, 214 <219 Rn. 15 ff.>; vom 8. Mai 2007 – VI ZB 74/06 -, NJW 2007, S. 2045 <2046 Rn. 12>). Den rechtzeitigen Zugang ihres Schriftsatzes bei Gericht muss grundsätzlich die Partei eines Rechtsstreits beweisen (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2013 – VIII ZB 13/13 -, NJW-RR 2014, S. 179 Rn. 10). Es entspricht gefestigter obergerichtlicher Rechtsprechung, dass ein Sendebericht den Zugang des Telefaxschreibens nicht beweist, sondern lediglich ein Indiz für dessen Zugang darstellt (vgl. BGH, Beschluss vom 8. Oktober 2013 – VIII ZB 13/13 -, NJW-RR 2014, S. 179 Rn. 12; Urteil vom 19. Februar 2014 – IV ZR 163/13 -, juris, Rn. 27).
Das Gericht bleibt aber verpflichtet, die einer Kenntnis der Partei typischerweise nicht zugänglichen gerichtsinternen Vorgänge des Faxempfangs durch die im Einzelfall nötigen Maßnahmen von Amts wegen aufzuklären (vgl. BGH, Beschlüsse vom 3. Juli 2008 – IX ZB 169/07 -, NJW 2008, S. 3501 Rn. 11; vom 8. Oktober 2013 – VIII ZB 13/13 -, NJW-RR 2014, S. 179 Rn. 13 f.). Dieser Aufklärungspflicht ist das Amtsgericht vor Erlass des Beschlusses nicht ausreichend nachgekommen. Weder dem angegriffenen Beschluss noch den Akten des Ausgangsverfahrens ist zu entnehmen, dass sich das Amtsgericht mit dem von der Beschwerdeführerin vorgelegten Sendebericht betreffend die rechtzeitige Faxübersendung der Klageerwiderung an das Gericht auseinandergesetzt und entsprechende Aufklärungsbemühungen vorgenommen hat.
Der Gehörsverstoß ist auch entscheidungserheblich. Das ist der Fall, wenn nicht auszuschließen ist, dass die Berücksichtigung des übergangenen Vorbringens das Amtsgericht zu einer anderen, der Beschwerdeführerin günstigen Entscheidung geführt hätte (vgl. dazu BVerfGE 7, 95 <99>; 112, 185 <206>). Hier ist nicht ausgeschlossen, dass das Amtsgericht nach Prüfung der Umstände der Faxübersendung zu dem Ergebnis gelangt wäre, dass die Klageerwiderung rechtzeitig vor dem bestimmten Zeitpunkt vom Faxgerät des Gerichts empfangen und gespeichert worden und das Verfahren nach § 321a Abs. 5 ZPO fortzusetzen ist. Es kann auch nicht ausgeschlossen werden, dass die Beschwerdeführerin bei Fortsetzung des Verfahrens unter Berücksichtigung des Inhalts der Klageerwiderung obsiegt hätte.“
Anmerkung:
Der Fall ist ein gutes Beispiel dafür, mit welcher Selbstherrlichkeit sich manchmal Richter/-innen über das, was an sich jedem einleuchtet, hinwegsetzen. Abgesehen davon, dass es bereits ein NoGo ist, wenn ein Gericht seine Entscheidung bereits zu einer Zeit trifft, in der die von ihm selbst gesetzte Frist noch gar nicht abgelaufen ist, mag es im Einzelfall vorkommen, dass ein rechtzeitig bei Gericht eingereichter Schriftsatz – aus welchen Gründen auch immer – nicht rechtzeitig auf dem Schreibtisch des für die Entscheidung zuständigen Richters landet. Gleichwohl würde wohl der juristische Laie erwarten, dass ein Richter in einem solchen Fall, bevor er sein Urteil verfasst bzw. verkündet, wenn so wie hier noch keine Klageerwiderung eingegangen ist, so dass nur nach dem Klagevortrag entschieden wird, zumindest bei der Geschäftsstelle nachfragt, ob eine solche Klageerwiderung (zumindest vorab per Fax) eingegangen ist. Was aber noch viel krasser ist, dass das Gericht sich im Rahmen der Anhörungsrüge, als ihm ein Faxsendeprotokoll vorgelegt worden ist, wonach noch rechtzeitig eine Klageerwiderung versandt worden war, das Gericht sich nicht dazu berufen gefühlt hat, nachzuforschen, woran es gelegen habe, dass ihm der Schriftsatz nicht rechtzeitig zugegangen ist, insbesondere aber auch zu eruieren, ob denn tatsächlich der Schriftsatz rechtzeitig das Gericht erreicht hat, so dass das Verfahren wieder eröffnet und fortgeführt werden muss.
Wer als Rechtsanwalt auf solch einen Richter stößt, der gerät, obwohl er überhaupt nichts falsch gemacht hat, in höchste Erklärungsnot gegenüber dem eigenen Mandanten. Muss dieser doch glauben, der Anwalt habe die Frist versäumt. Viele Rechtsuchende würden an dieser Stelle nicht weitermachen und das Fehlurteil akzeptieren. Sowohl eine unbefriedigende Situation für Rechtsuchende als auch für Rechtsanwälte, denn selbst, wenn – so wie hier – das Urteil nicht akzeptiert und der Weg zum Bundesverfassungsgericht gegangen wird, so ist die Wahrscheinlichkeit, dass eine Entscheidung überhaupt vom Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung angenommen wird, erschreckend gering. Für gewöhnlich erhalten nämlich Beschwerdeführer, nachdem ihre Verfassungsbeschwerde mehrere Jahre beim Bundesverfassungsgericht gelegen hat, von dort lediglich einen „Einzeiler“ in dem mitgeteilt wird, dass die Beschwerde nicht zur Entscheidung angenommen worden ist. Hinzu kommt, dass das Verfassen eine Verfassungsbeschwerde, wenn es sorgfältig gemacht wird, durchaus eine zeitaufwendige Tätigkeit ist, so dass hier am Ende des Tages, weil es sich bei dem Streit um eine Nebenkostenabrechnung um einen Bagatellstreitwert handelt, bei dem Verfahren ohnehin nicht kostendeckend geführt werden können, der Rechtsanwalt oder die Rechtsanwältin mit ihrer aufgewendeten Arbeitszeit das geradebiegen müssen, was ein Gericht mit kaum zu überbietender Nachlässigkeit versäumt hat. Für den Richter oder die Richterin, der oder die mit der Ausgangsentscheidung befasst war, bleibt das Ganze, wie meist, ohne rechtliche Konsequenz. Vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntermaßen in Gottes Hand. Da wird die richterliche Unabhängigkeit schnell zu richterlichen Narrenfreiheit.
Die Problematik, dass bei Gericht eingehende Schriftsätze nicht schnell genug gerichtsinternen weitergeleitet werden, hat sich übrigens nach der Erfahrung des Unterzeichners auch nicht mit Einführung des beA (besonderes elektronisches Anwaltspostfach) erledigt. Wir hatten erst unlängst in einem Verfahren 3 Tage vor dem angesetzten Verhandlungstermin einem Gericht mitgeteilt, dass der Zeuge, der im Termin vernommen werden sollte, kurzfristig verstorben ist und angeregt deshalb den Termin aufzuheben. Gleichwohl hat der Schriftsatz dann erst am Tag der Verhandlung die zuständige Richterin erreicht … Die beabsichtigte „Beschleunigung“ der Kommunikation zwischen Anwaltschaft und Gerichten wird damit ad absurdum geführt.