Der Laie staunt und der Fachmann wundert sich. So könnte man das Urteil des BFH vom 17.01.2023 (IX R 15/20) umschreiben, in dem Deutschlands oberste Finanzrichter in einer lang erwarteten Entscheidung sich auf den Standpunkt gestellt haben, dass die Erhebung des Solidaritätszuschlags, volkstümlich auch Soli genannt, auch in den Jahren 2020 und 2021, also zu einer Zeit, in der nur noch etwa 10 % der Steuerzahler, zur Kasse gebeten werden, noch nicht verfassungswidrig sei und deshalb – anstatt die Frage letztverbindlich dem Bundesverfassungsgericht zur Entscheidung im Rahmen einer sog. Richtervorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen – die Klage gegen die entsprechenden Steuerbescheide der Kläger abgewiesen haben.
So argumentierten die Kläger
Die Kläger waren dabei der Auffassung, dass seit dem Jahr 2020 mit Auslaufen des sog. Solidarpakts II das SolZG 1995, Art. 106 Abs. 1 Nr. 6 GG keine ausreichende Ermächtigungsgrundlage für den ursprünglich verfassungsgemäß eingeführten Solidaritätszuschlag darstellen und deshalb die weitere Erhebung bereits gegen das Grundgesetz verstoßen würde. Hinzu käme, dass nachdem nur noch etwa 10 % der Steuerzahler zur Kasse gebeten werden, es sich um einen eklatanten Verstoß gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz handeln würde, weil es dem Grundgesetz fremd sei, dass neben der Einkommensteuer auch weitere Abgaben einkommensabhängig erhoben werden. So würde über die Hintertür Solidaritätszuschlag faktisch eine „Reichensteuer“ eingeführt, die bereits ab einem Jahresbruttoeinkommen von 60.000 € eingreift.
So hätte der BFH entscheiden können
Der BFH hätte zweierlei Möglichkeiten zu Entscheidung gehabt. Hätte er nicht, wie jetzt geschehen, die weitere Erhebung des Solidaritätszuschlags nur bezogen auf eine kleine Gruppe von Steuerzahlern, für mit dem Grundgesetz vereinbar erklärt, dann hätte er nicht etwa die Regelungen verwerfen und selbst die angegriffenen Steuerbescheide aufheben dürfen, sondern er hätte sein Verfahren aussetzen und zunächst im Rahmen einer sog. konkreten Normenkontrolle, auch Richtervorlage genannt, nach Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht zu Entscheidung vorlegen müssen. Dieses hätte dann vorab die Frage klären müssen, ob die Regelung gegen das Grundgesetz verstößt, also Grundrechte verletzt werden. Erst wenn dies vom Bundesverfassungsgericht bejaht worden wäre, dann hätte der BFH dies seine Entscheidung zu Grunde legen und die Steuerbescheide, die Gegenstand der Klage waren, aufheben müssen. Dies deshalb, weil die Verwerfungskompetenz bei sog. Gesetzen im formellen Sinn, also Gesetzen, die nicht von der Exekutive, sondern von der Legislative stammen, nicht bei den einfachen Gerichten, sondern exklusiv beim BVerfG liegt.
Voraussetzung für eine Richtervorlage ist, dass das vorlegende Gericht von der Verfassungswidrigkeit der vorgelegten Regelung überzeugt ist. Die Richter am BFH haben sich hier damit aus der Affäre gezogen, dass sie diese Überzeugung noch nicht gewinnen konnten, sondern stattdessen damit argumentiert haben, die Erhebung sei jedenfalls in den Jahren 2020 und 2021 noch verfassungsgemäß gewesen. …
An dieser Stelle wird bereits deutlich, dass es für die Frage, ob ein Gericht sein Verfahren aussetzt und dem Bundesverfassungsgericht vorliegt, oder aber stattdessen die Klage abweist, nicht auf objektive Maßstäbe ankommt, sondern ausschließlich darauf, welche Meinung zu einer Rechtsfrage dass damit befasste Gericht hat.
So begründet der BFH, warum er derzeit von einer Verfassungswidrigkeit der einkommensabhängigen Erhebung nicht überzeugt ist
Nach Auffassung der Richter wird mit einem Zuschlag von 5,5 % zu Einkommensteuer oder Körperschaftsteuer die Finanzordnung des GG nicht in verfassungswidriger Weise beeinträchtigt. Es sei nicht geboten gewesen diese Ergänzungsabgabe von vornherein zu befristen. Unerheblich sei zudem auch, ob die Zusatzeinnahmen durch den Soli zweckgebunden für den Aufbau Ost verwendet wurden. Es gehöre vielmehr zur Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers darüber zu entscheiden, welche Aufgaben er wann in Angriff nimmt und wie diese finanziert werden. Der Begriff Solidaritätszuschlag sei dabei auch nicht irreführend, sodass kein Verstoß gegen das Rechtsstaatsprinzip vorliegen würde. Dass ab dem Jahr 2021 mit dem Solidaritätszuschlag nur noch Bezieher höherer Einkommen belastet werden, stelle, so die Richter, eine sachlich gerechtfertigte Ungleichbehandlung dar. Dies deshalb, weil beisteuern, wieder Einkommensteuer und damit auch dem Solidaritätszuschlag, die an der Leistungsfähigkeit des Steuerpflichtigen ausgerichtet sind, die Berücksichtigung sozialer Gesichtspunkte zulässig sei. Da letztlich der Solidaritätszuschlag eine Erhöhung der Einkommensteuer darstelle, könne der Gesetzgeber sozialen Gesichtspunkten Rechnung tragen und diesen daher auf steuerpflichtige mit hohen Einkünften beschränken. Dies sei durch das Sozialstaatsprinzip gerechtfertigt.
Was bedeutet dies für die Kläger?
Das Zögern des BFH bedeutet für die Kläger, dass diese nunmehr binnen eines Monats Verfassungsbeschwerde gegen das Urteil zum Bundesverfassungsgericht erheben müssen. Dieses muss dann, vorausgesetzt die Verfassungsbeschwerde ist so gut begründet, dass das Bundesverfassungsgericht sie nicht von Haus aus abweisen kann, mit der Frage, ob ein Solidaritätszuschlag nur für Besserverdiener verfassungsgemäß ist, befassen muss. Den Klägern wird, da Verfassungsbeschwerden nun einem Bereich von unter 5 % erfolgreich sind, also nicht nur aufgrund der kurzen Frist ein erheblicher Druck gemacht, sondern sie werden auch mit einem weiteren Kostenrisiko belastet. Nicht durch das Verfahren selbst, dass grundsätzlich kostenfrei ist, sondern dadurch, dass eigene Rechtsanwaltskosten zur Begründung einer solchen Beschwerde entstehen. Kommt am Ende das Bundesverfassungsgericht zu dem Ergebnis, dass ein Verstoß gegen Grundrechte vorliegt, dann wird dies aber mit großer Wahrscheinlichkeit nicht zu dem Ergebnis führen, dass das Bundesverfassungsgericht die Regelung ersatzlos aufhebt, und damit alle jetzt zur Kasse gebetenen einen Anspruch auf Rückzahlung zu Unrecht erhobener Solidaritätszuschlage haben, sondern das Bundesverfassungsgericht kann auch dem Gesetzgeber lediglich aufgeben, eine neue Regelung zu schaffen, sodass am Ende noch mehrere Jahre Solidaritätszuschlag von der Gruppe der Besserverdiener bezahlt werden muss. Hätte der BFH dagegen vorgelegt und aufgrund der Vorlage das Bundesverfassungsgericht die verfassungswidrig kein bejaht, und der BFH dann auf dieser Grundlage entschieden, dann hätte der Staat zu Unrecht vereinnahmter Solidaritätszuschlage zurückzahlen müssen. Von daher ist das Urteil des BFH, wen überrascht es, staatstragend, ähnlich wie zuletzt die Urteile des Bundesverfassungsgerichts zur Thematik Corona und Vergemeinschaftung von Schulden. Wenn der Eindruck entsteht, dass Urteile der Obergerichte zu stark politisch motiviert sind, dann ist dies auf Dauer geeignet das Vertrauen in den Rechtsstaat nachhaltig zu erschüttern.
Kommentar
Diese Aussagen sind bemerkenswert und widersprüchlich zugleich. So nämlich das Gericht damit argumentiert, der Solidaritätszuschlag müsse gar nicht zweckgebunden für den Wiederaufbau Ost eingesetzt werden, sondern der Staat sei berechtigt die so erzielten Einnahmen auch zweckfremd zum Stopfen anderer Haushaltslöcher einzusetzen, denn an anderer Stelle das Gericht aber damit argumentiert, dass jedenfalls nach dem Vortrag der Bundesregierung in den Jahren 2020 und 2021 der Aufbau Ost noch nicht abgeschlossen gewesen sei, stellt es den Rechtssatz auf, dass eine Erhebung jedenfalls solange gerechtfertigt ist, solange noch Aufgaben des Wiederaufbaus Ost anstünden. Konsequent zu Ende gedacht bedeutet dies, dass es nach Auffassung der Richter Gesetzgeber in der Hand den Solidaritätszuschlag vergleichbar einem Perpetuum Mobile unendlich weiterlaufen zu lassen, wenn er nur das so vereinnahmte Geld nicht vollständig in den Wiederaufbau Ost steckt, sondern anderweitig ausgibt, sodass stets ein Restfinanzierungsbedarf für den Wiederaufbau Ost vorhanden bleibt. Im Umkehrschluss könnte man auch damit argumentieren, dass dann, wenn der vereinnahmte Solidaritätszuschlag stets stringent für den Wiederaufbau Ost ausgegeben worden wäre, also nicht andere Lücken im Finanzierungssystem damit systemfremd geschlossen worden wären, dann es längst nicht erforderlich gewesen, diesen für einen Teil der Steuerzahler über einen allgemeinen Beendigungszeitpunkt hinaus unbestimmt weiterlaufen zu lassen. Mit der Steilvorlage, die hier die Richter geliefert haben, besteht die Gefahr, dass der Solidaritätszuschlag, bei dem es sich in Wahrheit nunmehr um eine verdeckte Erhöhung des Spitzensteuersatzes handelt, auf unabsehbare Zeit weiterlaufen wird, den anderweitigen Finanzierungsbedarf gibt es genug: Fehlausgaben zu Covid 19, Finanzierung der über Jahrzehnte kaputtgesparten Bundeswehr und Last but not least die politisch gebetsmühlenartig gepriesene dauerhafte Unterstützung der Ukraine sind nur einige Projekte, die befürchten lassen, dass sich Leistungsträger in Deutschland, jedenfalls dann, wenn sie die Möglichkeit haben, sich anderweitig zu orientieren, denn jede Solidarität findet irgendwann ihr Ende.