Vor Gericht und auf hoher See ist man bekanntlich in Gottes Hand. Von daher kommt es nicht nur immer wieder vor, dass Rechtsstreitigkeiten, entgegen dem gesunden Rechtsempfinden, entschieden werden, sondern dass das, was das Gericht dann als Begründung für das Urteil liefert, nur wenig mit dem eigenen Vortrag im Rechtsstreit zu tun hat, weil das Gericht diesen entweder nicht gesehen oder nicht beachtet hat. Gibt es noch ein Rechtsmittel gegen das Urteil, dann bleibt zu hoffen, dass die Berufungsinstanz den Fehler erkennt und korrigiert. Ist dagegen das Urteil nicht mehr rechtsmittelfähig und hat auch eine Gehörsrüge nach § 321a ZPO nichts gebracht, dann bleibt in derartigen Fällen als letzter Strohhalm nur eine Verfassungsbeschwerde in der eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 103 Abs. 1 GG gerügt wird. Auch, wenn die Hürden hierfür hoch sind und die Wahrscheinlichkeit, dass das Bundesverfassungsgericht oder ein Landesverfassungsgericht überhaupt die Beschwerde zur Entscheidung annimmt, gibt es doch manchmal Fälle, in denen die Verfassungsrichter eingreifen und genau deswegen ein Urteil kassieren. So hat der Verfassungsgerichtshof NRW mit Beschluss vom 14.09.2021 (137/20. VB-2) ein Urteil des Amtsgerichts Düsseldorf deshalb aufgehoben und zur erneuten Verhandlung zurückverwiesen, weil dort der Vortrag der Klägerin unter Bezugnahme auf ein einschlägiges Urteil des BGH ersichtlich im Urteil keinen Niederschlag gefunden hatte.
Streit um Ersatzpflicht für außergerichtliche Rechtsanwaltsgebühren nach Verkehrsunfall
Gegenstand des Ausgangsrechtsstreits war ein Schadensersatzanspruch auf Ersatz außergerichtlicher Rechtsanwaltsgebühren, die im Zusammenhang mit einer Beschädigung des klägerischen Fahrzeugs durch ein Polizeifahrzeug geltend gemacht worden waren. Das Land NRW hatte sich geweigert die außergerichtlichen Rechtsanwaltsgebühren, die für die Geltendmachung des Schadensersatzanspruches entstanden waren, zu übernehmen, weil dieses der Meinung gewesen war, es hätte sich um einen einfach gelagerten Sachverhalt gehandelt, sodass die Einschaltung eines Rechtsanwalts nicht erforderlich gewesen wäre. Die Klägerin hatte dagegen unter Bezugnahme auf das Urteil des BGH vom 29.10.2019 (VI ZR 45/19) damit argumentiert, dass eine Verpflichtung zum Ersatz der Anwaltskosten deshalb bestünde, weil der Verkehrsunfall zweier Kraftfahrzeuge jedenfalls hinsichtlich der Schadenshöhe keinen einfach gelagerten Schadensfall darstelle, in dem der Geschädigte den Schaden ohne anwaltliche Hilfe selbst geltend machen könne, so das bereits aus diesem Grund die Inanspruchnahme anwaltlicher Hilfe erforderlich war und deshalb auch zu ersetzen ist.
Nichtberücksichtigung des wesentlichen Parteivortrags stellt erheblichen Verfahrensfehler dar
Die Verfassungsrichter haben klargestellt, dass ein Gericht zwar bei der Abfassung seiner Entscheidungsgründe eine gewisse Freiheit habe und sich dabei auch auf die für den Entscheidungsausgang wesentlichen Aspekte beschränken könne. Es müssten jedoch die wesentlichen Ausführungen der Beteiligten, auch deren Rechtsausführungen, verarbeitet werden. Dies sei vorliegend nicht der Fall, weil das Gericht ersichtlich sich nicht bei der Beurteilung der Frage, ob ein „einfach gelagerter Fall“ gegeben sei mit dem von der Beschwerdeführerin zitierten Urteile des BGH auseinandergesetzt hatte. Kern des Vortrags der Beschwerdeführerin sei gewesen, dass die Grundsätze der Entscheidung des BGH auf die vorliegende Konstellation hätten übertragen werden müssen. Damit hatte sich das Amtsgericht nicht auseinandergesetzt, was aber zwingend erforderlich gewesen wäre.
Anmerkung:
Urteile im Zivilprozess wirken grundsätzlich nur Inter partes, also nur zwischen den Beteiligten des Rechtsstreits. Dies bedeutet, dass selbst dann, wenn der BGH etwas im Sinne einer Partei entschieden hat, ein Instanzgericht nicht daran gebunden ist, sondern aufgrund der richterlichen Unabhängigkeit auch hierzu, bis zur Grenze der Rechtsbeugung, eine andere Auffassung vertreten kann. Allerdings ist es regelmäßig so, dass dann, wenn ein Erstgericht eine Entscheidung des BGH nicht beachtet, dies regelmäßig dazu führt, dass die Berufung allein aus diesem Grund erfolgreich ist.
Berücksichtigt man im vorliegenden Fall, dass die Beschwerdeführerin, bevor sie Verfassungsbeschwerde eingelegt hatte, gegen das Urteil des Amtsgerichts noch eine Gehörsrüge nach § 321a ZPO erhoben hatte, in dem das Gericht auf genau diesen Rechtsfehler hingewiesen wurde und das Gericht gleichwohl an seiner Entscheidung festgehalten, also die Gehörsrüge als unbegründet zurückgewiesen hatte, dann verdeutlicht dies einmal mehr, dass der Gang zu Gericht immer weniger kalkulierbar ist. Der Verfasser selbst ist erst gestern im Rahmen einer mündlichen Verhandlung vor dem Amtsgericht München heftig mit einem Amtsrichter aneinandergeraten, weil dieser partout von seiner irrigen Auffassung, dass nur eine Forderung, die verjährt sei, auch verwirkt sein könne, nicht abrücken wollte. Das Argument, dass dann das Rechtsinstitut der Verwirkung völlig leerlaufen würde, wollte er nicht gelten lassen und war der Meinung, eine Untätigkeit über einen Zeitraum von mehr als 8 Jahren trotz Kenntnis des Schädigers wäre keinesfalls geeignet auch im Ansatz über eine Verwirkung nach § 242 BGB nachzudenken, weil die 10-jährige Verjährung (es ging um Schadensersatzansprüche beim Filesharing eines vormals Minderjährigen) noch nicht abgelaufen sei … Wäre der Rechtsstreit dann nicht doch noch vergleichsweise erledigt worden, dann hätte auch hier, je nachdem, wie das Urteil begründet wird, sich unter Umständen eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör ergeben können. Eine bloß unzutreffende Rechtsansicht genügt hierfür allerdings nicht. Für den Gehörsverstoß ist erforderlich, dass das Gericht den Vortrag bei seiner Entscheidung nicht in Erwägung zieht, sich also nicht damit auseinandersetzt.