Sollen mit gerichtlicher Hilfe Pflichtteilsansprüche nach §§ 2303 ff. BGB geltend gemacht werden, dann geschieht dies meist im Rahmen einer sog. Stufenklage, weil Pflichtteilsberechtigte regelmäßig nicht in der Lage sind, den Betrag, der ihnen als Beteiligung am Nachlass zusteht, genau zu beziffern. Deshalb wird zunächst auf Auskunft, Wertermittlung, Abgabe einer eidesstattlichen Versicherung und erst dann auf Zahlung geklagt. Nachdem sich die Verfahrenskosten in Zivilsachen regelmäßig nach dem sog. Streitwert bestimmen, der bei Klageeinreichung von der Klagepartei anzugeben ist, und den das Gericht dann meist im Rahmen einer vorläufigen Streitwertfestsetzung übernimmt, ist die Frage, wie dieser Wert zu bemessen ist, von praktischer Bedeutung, wenn das Verfahren vor der Zahlungstufe dadurch ein Ende findet, dass der Erbe einen erheblich höheren Betrag als den bei Klageeinreichung angegebenen Streitwert an dem Pflichtteilsberechtigten bezahlt hat. Ist der Streitwert an die Zahlung anzupassen oder verbleibt es bei dem ursprünglich von der Klagepartei angegebenen Streitwert? Ein aktueller Beschluss des OLG München vom 14.08.2023 (33 W 321/23 e) gibt dazu wichtige Hinweise.
Die Grundlage: Amtliche Leitsätze
Laut den amtlichen Leitsätzen bestimmt sich der Streitwert der Pflichtteilsstufenklage nach den realistischen wirtschaftlichen Erwartungen des Klägers zu Beginn des Verfahrens. Hierbei kann es jedoch vorkommen, dass auf die Erkenntnisse bei Beendigung des Verfahrens abgestellt wird, insbesondere wenn die zu Beginn des Verfahrens mitgeteilten Erwartungen offensichtlich unzutreffend waren.
Der Fall in Kürze
Ein Erblasser hatte ein Testament errichtet, in dem eine Person als Alleinerbin eingesetzt wurde. Ein anderer Beteiligter erhob Klage und bezifferte seinen Pflichtteilsanspruch auf mindestens 10.000 €. Nach Vorlage eines Gutachtens und einer Zahlung von 265.000 € durch die Beklagte wurde der Rechtsstreit für erledigt erklärt. Gleichwohl setzte das Landgericht den Streitwert nicht auf 265.000 € € fest, sondern blieb bei den bei Klageeinreichung genannten 10.000 €. Nachdem sich die Anwaltsgebühren in Zivilsachen im Streitwert bemessen, steht in derartigen Fällen ein, sondern auch den Rechtsanwälten ein eigenes Beschwerderecht zu. Davon machten die Rechtsvertreter Pflichtteilsberechtigten Gebrauch. Nachdem das Landgericht der Beschwerde nicht abgeholfen hat musste das OLG entscheiden.
Die Streitfrage: Wie wird der Streitwert bemessen?
Die zentrale Frage, die sich aus dem Beschluss des OLG München ergibt, ist, wie der Streitwert in solchen Fällen festzusetzen ist, in denen eine Stufenklage ihr Ende findet, bevor der Zahlungsantrag erreicht ist. Es gibt unterschiedliche Meinungen in der Rechtsprechung und Literatur. Während der BGH die „realistischen wirtschaftlichen Erwartungen“ zu Beginn des Verfahrens als maßgebliche Schätzungsgrundlage sieht, gibt es auch Ansichten, die die Erkenntnisse am Ende des Rechtszugs als maßgeblich erachten.
Besonderheiten im Erbrecht
Die Richter haben dabei allerdings betont, da im Gegensatz zum Familienrecht, und dort insbesondere beim Zugewinnausgleich, aus dem schwerpunktmäßig die Rechtsprechung stammt, erbrechtliche Stufenklagen die Besonderheit haben, dass der Pflichtteilsberechtigte möglicherweise keine genauen Kenntnisse über den Nachlass hat. Dies kann insbesondere dann der Fall sein, wenn es keinen Kontakt zwischen dem Pflichtteilsberechtigten und dem Erblasser gab. Daher kann die Angabe eines „vorläufigen“ Streitwertes oft nur dazu dienen, die Zuständigkeit des Gerichts zu begründen.
Der Senat geht daher davon aus, dass im vorliegenden Fall die Angabe des vorläufigen Streitwertes nicht zutreffen kann. Für die Bemessung der realistischen wirtschaftlichen Erwartungen des Klägers ist daher auf die Erkenntnisse abzustellen, die bei Beendigung des Verfahrens vorliegen und sich hier aus der von den Parteien mitgeteilten Einigung ableiten lassen. Der Senat hält es für angemessen, den Streitwert des Verfahrens in erster Instanz ausgehend vom tatsächlich gezahlten Betrag unter Berücksichtigung eines Abschlags zu bestimmen.
Fazit
Der Beschluss des OLG München macht deutlich, dass bei der Bemessung des Streitwerts nicht nur die Angaben zu Beginn des Verfahrens, sondern auch die realistischen Erwartungen und die tatsächlichen Erkenntnisse am Ende des Verfahrens eine Rolle spielen können. Für Anwälte und Mandanten im Erbrecht ist es daher von großer Bedeutung, sich dieser Komplexität bewusst zu sein und entsprechend zu handeln.
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Ansprechpartner zum Erbrecht:
Rechtsanwalt Graf ist auch Testamentsvollstrecker sowie Kooperationsmitglied im DVEV (Deutsche Vereinigung für Erbrecht und Vermögensnachfolge e. V.). und DIGEV (Deutsche Interessengemeinschaft für Erbrecht und Vorsorge e. V.)
Rechtsanwalt Detzer wird regelmäßig von den Amtsgerichten Wolfratshausen und Garmisch-Partenkirchen als Nachlasspfleger bestellt.