In der arbeitsrechtlichen Praxis ist es nicht ungewöhnlich, dass nach Ausspruch einer ordentlichen Kündigung ein Arbeitnehmer nicht mehr bis zum Ablauf der Kündigungsfrist zur Arbeit erscheint, sondern sich umgehend oder nächsten Tag arbeitsunfähig krank meldet und zum Nachweis eine ärztliche Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorliegt. Dies führt regelmäßig zu Spannungen im Arbeitsverhältnis, da der Arbeitgeber trotz der fehlenden Arbeitsleistung zur Lohnfortzahlung verpflichtet ist und für den Fall, dass während der laufenden Kündigungsfrist noch vorhandene Resturlaub abgebaut werden solle, am Ende auch noch Urlaubsabgeltung zu bezahlen hat. Nach § 3 Abs. 1 Satz 1 Entgeltfortzahlungsgesetz (EfZG) steht dem Arbeitnehmer ein Anspruch auf Entgeltfortzahlung zu, wenn er „ohne sein Verschulden“ an der Arbeitsleistung verhindert ist. Der Nachweis der Arbeitsunfähigkeit erfolgt gemäß § 5 Abs. 1 Satz 2 EfZG durch die Vorlage einer ärztlichen Bescheinigung. Die Verpflichtung zur Lohnfortzahlung entfällt nur dann, wenn es dem Arbeitgeber gelingt den Beweiswert der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung zu erschüttern.
Die Problematik der „Passgenauigkeit“
Oft erscheint die Arbeitsunfähigkeit „passgenau“ zum Zeitraum der Kündigungsfrist zu sein, so das Krankschreibung und Kündigungsfrist deckungsgleich sind. Hier stellt sich die Frage nach der Glaubwürdigkeit der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung. Diese Problematik wurde bereits im Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom 8. September 2021 (5 AZR 149/21) angesprochen, in dem festgestellt wurde, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung „erschüttert“ sein kann, wenn diese passgenau die Dauer der Kündigungsfrist umfasst.
Der Fall des BAG-Urteils vom 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23)
Der jüngste Fall, der vom BAG am 13. Dezember 2023 (5 AZR 137/23) entschieden wurde, veranschaulicht die Komplexität dieser Problematik. Hier legte der Arbeitnehmer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen vor, die den Zeitraum von der Kündigung bis zum Ende des Arbeitsverhältnisses abdeckten, und nahm unmittelbar danach eine neue Beschäftigung auf. Allerdings hatte die erstmalige Arbeitsunfähigkeit nicht nach Erhalt der Kündigung angezeigt, sondern noch davor. Am 02.05.2022 hat er eine bis zum 06.05.2022 laufende Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung vorgelegt. Der Beklagte Arbeitgeber hatte das Arbeitsverhältnis mit Kündigung vom 02.05.2022 gekündigt, wobei dem Kläger die Kündigung erst am 03.05.2022 zugegangen war. Sowohl das Arbeitsgericht als auch das Landesarbeitsgericht (LAG) Niedersachsen hatten den Beweiswert der Bescheinigungen nicht als erschüttert angesehen, da die Kündigung den Arbeitnehmer erst nach Vorlage der ersten Bescheinigung erreichte. Das BAG hingegen sah den Beweiswert der Bescheinigungen für den Zeitraum nach Erhalt der Kündigung, also mit Ablauf der ersten Bescheinigung ab dem 07.05.2022 als erschüttert an und verwies den Fall zur erneuten Verhandlung an das LAG zurück. Die obersten Arbeitsrichter haben dabei klargestellt, dass es für die Erschütterung des Beweiswerts nicht darauf ankommt, ob Arbeitgeber oder Arbeitnehmer gekündigt haben. Es komme auch nicht darauf an, ob eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung oder mehrere Bescheinigungen die Arbeitsunfähigkeit lückenlos bis zum Beschäftigungsende dokumentieren. Eine Erschütterung für die erste bescheinigte Arbeitsunfähigkeit bis zum 06.05.2023 verneinten die Richter, weil zum Zeitpunkt der Ausstellung der Bescheinigung dem Kläger die Kündigung noch nicht zugegangen war. Ansonsten komme es aber auf die Umstände des Einzelfalls an. Gerade dadurch, dass der Kläger nur bis zum Ablauf der Kündigungsfrist arbeitsunfähig krank gewesen ist, danach aber unmittelbar lückenlos ein neues Beschäftigungsverhältnis eingegangen ist, sei der Beweiswert erschüttert.
Das LAG wird nach der Zurückweisung nun Beweis darüber erheben müssen, ob tatsächlich eine Arbeitsunfähigkeit für den Zeitraum, in dem der Kläger Lohnfortzahlung beansprucht, vorgelegen hat. Da die vorgelegte Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung ihre Beweiskraft verloren hat, muss also nun der beweisbelastete Kläger vortragen und Beweis anbieten.
Fazit
Diese Entscheidung unterstreicht, dass der Beweiswert einer Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung im Kontext einer Kündigung stets eine Einzelfallbetrachtung erfordert. Es reicht nicht aus, nur die zeitliche Übereinstimmung der Arbeitsunfähigkeit mit der Kündigungsfrist zu betrachten. Vielmehr müssen alle Umstände des Einzelfalls berücksichtigt werden, wie beispielsweise das Vorliegen von mehreren Bescheinigungen, der Zeitpunkt des Erhalts der Kündigung und die unmittelbare Aufnahme einer neuen Beschäftigung nach dem Ende des Arbeitsverhältnisses.
Das Ärgernis für Arbeitgeber, dass Arbeitnehmer nach Erhalt eine Kündigung mit einer Arbeitsunfähigkeit bis zum Beschäftigungsende reagieren, ist damit aber nicht wirklich vom Tisch, weil Arbeitnehmer die Erschütterung des Beweiswerts der Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung wiederum dadurch umgehen können, indem sie nicht unmittelbar in ein neues Beschäftigungsfeld des starten, sondern sich auch noch über das Beschäftigungsende hinaus arbeitsunfähig krankschreiben lassen. Die Trickserei wird aber dadurch erschwert, dass eine Lohnfortzahlung nur für insgesamt 6 Wochen geschuldet wird, also gerade dann, wenn die Kündigungsfrist länger ist, Arbeitnehmer dann entweder finanzielle Einbußen hinnehmen müssen, indem sie von der Lohnfortzahlung auf Krankengeld wechseln oder sich eine unbezahlte Auszeit gönnen. Ärzte, die allzu leichtfertig und gefällig Arbeitsunfähigkeitsbescheinigungen ausstellen, laufen Gefahr, dass am Ende sie mittelbar als Zeugen in den Rechtsstreit einbezogen werden. Ist nämlich der Beweiswert erschüttert, dann bleibt dem Arbeitnehmer zu beweisen Arbeitsunfähigkeit regelmäßig nur den Arzt, der die Arbeitsunfähigkeit bescheinigt hat, als Zeugen zu benennen und ihn von der Schweigepflicht zu entbinden. Wenn ein Arzt erst einmal die Erfahrung gemacht hat, was dies bedeutet, für minimale Zeugenentschädigung mehrere Stunden seine Praxis zusperren zu müssen, um bei Gericht als Zeuge auszusagen, der wird vielleicht weniger geneigt sein, Arbeitnehmern wunschgerecht und passgenau eine Arbeitsunfähigkeit zu bescheinigen.