Befindet sich der Arbeitgeber in Annahmeverzug, dann hat der Arbeitnehmer grundsätzlich einen Anspruch auf Verzugslohn. Er muss sich allerdings dasjenige anrechnen lassen, was er in dieser Zeit anderweitig erworben oder böswillig zu erwerben unterlassen hat, § 615 S. 2 BGB. Um diese Frage zu beantworten, kommt es maßgeblich darauf an, welche anderweitige Tätigkeit dem Arbeitnehmer zumutbar ist. Die Frage der Zumutbarkeit einer anderweitigen Tätigkeit während des Annahmeverzugs des Arbeitgebers ist also von zentraler Bedeutung im deutschen Arbeitsrecht. Insbesondere nach einer Kündigung, die später im Rahmen eines Kündigungsschutzverfahrens als unwirksam festgestellt wird, stellt sich für den gekündigten Arbeitnehmer die Frage, ob und unter welchen Bedingungen er eine andere Beschäftigung annehmen muss, um den Anrechnungstatbestand des § 11 Kündigungsschutzgesetz (KSchG) zu vermeiden.
Der rechtliche Rahmen: § 11 KSchG
Nach § 11 Nr. 2 KSchG ist der Arbeitnehmer verpflichtet, sich dasjenige Einkommen auf seinen Annahmeverzugslohn anrechnen zu lassen, das er durch eine anderweitige Tätigkeit hätte erzielen können, sofern er es böswillig unterlassen hat, eine ihm zumutbare Arbeit anzunehmen. Der Begriff der Zumutbarkeit ist hierbei entscheidend und wird in der Rechtsprechung je nach Einzelfall unterschiedlich interpretiert.
Das Ziel des § 11 KSchG ist es, den Arbeitnehmer vor finanziellen Einbußen zu bewahren, wenn er während eines Kündigungsschutzverfahrens keine Beschäftigung findet. Gleichzeitig soll verhindert werden, dass der Arbeitnehmer trotz zumutbarer Beschäftigungsmöglichkeiten den Annahmeverzugslohn in voller Höhe beansprucht.
Die Entscheidung des LAG Düsseldorf
Das LAG Düsseldorf hat in seinem Urteil vom 15. Mai 2024 (Az.: 14 Sa 81/24) wesentliche Aspekte der Zumutbarkeit einer anderweitigen Tätigkeit präzisiert. In dem Fall ging es um einen Arbeitnehmer, der nach seiner Kündigung keine andere Beschäftigung angenommen hatte. Der Arbeitgeber argumentierte, dass der Arbeitnehmer dadurch böswillig gehandelt habe und sich einen möglichen Verdienst auf seinen Annahmeverzugslohn anrechnen lassen müsse.
Das LAG entschied jedoch, dass die in Frage stehende Tätigkeit für den Arbeitnehmer unzumutbar war. Entscheidende Faktoren waren:
- Geringer Nettoverdienst: Der mögliche Nettoverdienst der neuen Tätigkeit lag nur geringfügig über dem Arbeitslosengeld I. In solchen Fällen besteht nach Auffassung des Gerichts keine Verpflichtung zur Annahme der Tätigkeit, da der finanzielle Vorteil minimal ist.
- Hohe Kosten für den Arbeitsweg: Der Arbeitnehmer hätte erhebliche Kosten für die Fahrten zur neuen Arbeitsstätte aufwenden müssen, was den geringen Verdienst zusätzlich schmälert.
- Verlust der Expertise: Es bestand die Gefahr, dass der Arbeitnehmer durch die Annahme der neuen Tätigkeit seine bisherige berufliche Expertise verliert, was langfristig nachteilig für seine Karriere sein könnte.
- Probleme bei der Kinderbetreuung: Aufgrund der neuen Arbeitszeiten wäre die Betreuung der Kinder des Arbeitnehmers nicht mehr in der bisherigen Weise möglich gewesen.
Vertiefung durch die Rechtsprechung des BAG
Das Bundesarbeitsgericht (BAG) hat in seiner Entscheidung vom 7. Februar 2024 (Az.: 5 AZR 177/23) ebenfalls wichtige Leitlinien zur Zumutbarkeit anderweitiger Beschäftigungen formuliert. Das BAG stellte klar, dass eine erhebliche Verschlechterung der Arbeitsbedingungen nicht akzeptabel ist. Dies betrifft nicht nur den Verdienst, sondern auch die Art der Tätigkeit, die Arbeitszeit und den Arbeitsort.
Insbesondere wurde betont, dass ein Nettoverdienst, der unter dem Arbeitslosengeld I liegt, während des Bezugszeitraums dieser Leistung als unzumutbar gilt. Der Arbeitnehmer ist nicht verpflichtet, eine solche Tätigkeit anzunehmen, selbst wenn diese Arbeit zumutbar erscheint. Zudem betonte das BAG, dass die Entscheidung, eine finanziell bessere öffentlich-rechtliche Leistung in Anspruch zu nehmen, den Arbeitnehmer nicht in den Verdacht der Böswilligkeit stellt, solange die Tätigkeit unzumutbar ist.
Fazit
Die Frage der Zumutbarkeit einer Tätigkeit während des Annahmeverzugs ist von zentraler Bedeutung für Arbeitnehmer, die sich nach einer Kündigung in einem Kündigungsschutzverfahren befinden. Die aktuelle Rechtsprechung zeigt, dass eine Vielzahl von Faktoren berücksichtigt werden muss, um die Zumutbarkeit zu beurteilen. Dabei spielen finanzielle Aspekte, persönliche Umstände sowie die Auswirkungen auf die berufliche Zukunft des Arbeitnehmers eine wesentliche Rolle.
Die Entscheidungen des LAG Düsseldorf und des BAG unterstreichen, dass eine Tätigkeit unzumutbar ist, wenn sie mit erheblichen Nachteilen verbunden ist, sei es durch geringe Verdienstmöglichkeiten, hohe Kosten oder andere persönliche Umstände. Arbeitnehmer sollten daher sorgfältig prüfen, ob eine angebotene Tätigkeit wirklich zumutbar ist, bevor sie sich entscheiden, diese abzulehnen. Arbeitgeber hingegen sollten sich bewusst sein, dass die Schwelle zur Zumutbarkeit nicht allein durch einen marginal höheren Verdienst überschritten wird, sondern eine ganzheitliche Betrachtung notwendig ist.
Diese Urteile bieten eine wichtige Orientierung für zukünftige Fälle und tragen zur Rechtsklarheit bei, indem sie konkrete Kriterien für die Beurteilung der Zumutbarkeit anderweitiger Tätigkeiten während des Annahmeverzugs festlegen.
Exkurs: Wodurch unterscheiden sich § 615 BGB und § 11 KSchG?
§ 11 des Kündigungsschutzgesetzes (KSchG) und § 615 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) regeln beide wichtige Aspekte des Annahmeverzugs im Arbeitsverhältnis, haben jedoch unterschiedliche Schwerpunkte und Anwendungsbereiche.
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Anwendungsbereich
– § 11 KSchG: Diese Vorschrift kommt nur im Rahmen von Kündigungsschutzklagen zur Anwendung. Sie regelt die Anrechnung von Einkommen aus anderweitiger Arbeit, die der Arbeitnehmer während des Annahmeverzugs hätte erzielen können, auf den Annahmeverzugslohn, wenn das Arbeitsgericht feststellt, dass die Kündigung unwirksam war und das Arbeitsverhältnis fortbesteht.
– § 615 BGB: Diese Vorschrift ist allgemeiner gefasst und regelt den Annahmeverzug des Arbeitgebers unabhängig von einer Kündigungsschutzklage. § 615 BGB betrifft Fälle, in denen der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers nicht annimmt, obwohl der Arbeitnehmer zur Leistung bereit ist und keine anderen rechtlichen Hindernisse bestehen. Die Vorschrift bestimmt, dass der Arbeitgeber in diesem Fall den Lohn weiterzahlen muss, obwohl keine Arbeitsleistung erbracht wird.
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Inhaltliche Regelung
– § 11 KSchG: Der Schwerpunkt dieser Vorschrift liegt auf der Anrechnung von erzieltem oder böswillig unterlassenem Verdienst des Arbeitnehmers während des Annahmeverzugs. Wenn der Arbeitnehmer während der Zeit der Kündigung eine zumutbare andere Beschäftigung nicht annimmt, obwohl er die Möglichkeit dazu hätte, kann dies als böswilliges Unterlassen betrachtet werden. In einem solchen Fall wird das hypothetische Einkommen aus dieser Beschäftigung auf den Annahmeverzugslohn angerechnet.
– § 615 BGB: § 615 BGB legt fest, dass der Arbeitnehmer trotz Annahmeverzugs durch den Arbeitgeber seinen Vergütungsanspruch behält, ohne dass er die Arbeit tatsächlich leisten muss. Diese Vorschrift enthält jedoch keine spezifische Regelung zur Anrechnung von anderweitig erzieltem Einkommen. Die Anrechnung erfolgt hier über den allgemeinen Schadensersatzgrundsatz nach § 254 BGB (Mitverschulden), wenn dem Arbeitnehmer ein anderweitiger Erwerb zumutbar ist und er diesen dennoch nicht wahrnimmt.
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Rechtsfolgen
– § 11 KSchG: Hier steht die Reduktion des Annahmeverzugslohns im Vordergrund, wenn der Arbeitnehmer eine zumutbare Beschäftigung nicht annimmt. Dies kann zu einer erheblichen finanziellen Einbuße für den Arbeitnehmer führen, falls er es versäumt, eine anderweitige, zumutbare Tätigkeit aufzunehmen.
– § 615 BGB: Bei einem Annahmeverzug nach § 615 BGB hat der Arbeitnehmer grundsätzlich Anspruch auf volle Vergütung, auch wenn er tatsächlich nicht arbeitet. Es erfolgt keine automatische Reduktion des Lohns, es sei denn, es kommt zu einer Anrechnung von Einkommen nach allgemeinen schadensersatzrechtlichen Grundsätzen.
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Bezug zur Praxis
– § 11 KSchG: Diese Vorschrift ist besonders relevant in Kündigungsschutzverfahren, wenn es darum geht, ob und in welchem Umfang der Arbeitgeber nachträglich Lohnzahlungen leisten muss. Sie ist spezifisch auf die Konstellation einer vermeintlich unwirksamen Kündigung und den Umgang mit dem Arbeitsverhältnis in der Zwischenzeit ausgerichtet.
– § 615 BGB: § 615 BGB spielt in der täglichen Praxis des Arbeitsrechts eine Rolle, wenn der Arbeitgeber die Arbeitsleistung des Arbeitnehmers aus Gründen, die in seiner Sphäre liegen, nicht entgegennimmt. Es geht hier oft um Fragen der Betriebsstilllegung, des Streiks oder anderer Umstände, die den Annahmeverzug des Arbeitgebers betreffen.
Fazit
Die beiden Vorschriften haben unterschiedliche Schwerpunkte und regeln verschiedene Aspekte des Annahmeverzugs. Während § 11 KSchG speziell die Situation nach einer Kündigung betrifft und die Anrechnung anderweitigen Einkommens im Blick hat, ist § 615 BGB eine allgemeine Regelung für den Fall, dass der Arbeitgeber die Arbeitsleistung nicht annimmt. Beide Vorschriften sind essenziell für das Verständnis der Rechte und Pflichten von Arbeitgebern und Arbeitnehmern im Falle des Annahmeverzugs, greifen jedoch in unterschiedlichen Kontexten und mit unterschiedlichen rechtlichen Konsequenzen.