Die allgemein bekannte Redewendung zwei Juristen drei Meinungen besagt, dass das Recht dehnbar ist und von Gerichten variabel angewendet werden kann. In einer Vielzahl von Fällen kann deshalb ein Gericht seine Entscheidung in die eine oder in die andere Richtung treffen und findet dafür jeweils eine, zumindest im Ansatz, nachvollziehbare Begründung.
Rechtlich nicht nachvollziehbar ist allerdings eine Entscheidung des EGMR (Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte) vom 02.08.2017. Die Straßburger Richter haben nun kurzfristig die auf § 58 a Aufenthaltsgesetz gestützte Abschiebung eines Bremers Gefährders gestoppt und das, obwohl zuvor bereits das Bundesverfassungsgericht nicht nur die Abschiebung von Gefährdern im Allgemeinen gebilligt, sondern auch zu dieser Abschiebung grünes Licht gegeben hatte, in dem sein Eilantrag unsere Verfassungsbeschwerde abgewiesen worden sind (Beschl. v. 26.07.2017, Az. 2 BvR 1606/17). Der 18-jährige Russe, der fast sein ganzes Leben in Deutschland verbracht hat, sympathisierte mit der Terrormiliz islamischer Staat und hat nach den Erkenntnissen der Behörden sich in einem Chat mit Islamisten zu einem Selbstmordanschlag auf Zivilisten bereit erklärt.
Auch, wenn der EGMR nach Art. 39 der EGMR-Verfahrensordnung im Rahmen eines Beschwerdeverfahrens vorläufige Maßnahmen treffen kann, so ist aus rechtlicher Sicht eine solche Entscheidung nicht nachvollziehbar, denn der EGMR ist keine weitere Instanz. Er hat auch nicht die Kompetenz in die abgewogen Entscheidungen mehrstufiger Instanzgerichte einzugreifen. Die Aufgabe des EGMR ist es ausschließlich sicherzustellen, dass die Vertragsparteien der Europäischen Konvention zum Schutz der Menschenrechte und Grundfreiheiten die durch die Ratifizierung übernommenen Verpflichtungen einhalten.
Vor diesem Hintergrund ist ebenso wenig nachvollziehbar, dass Deutschland die Abschiebung, obwohl bereits die Fahrt zum Flughafen begonnen hatte, gestoppt hat, denn die Entscheidung entfaltet keine Bindungswirkung. Lediglich die endgültigen Entscheidungen sind zu beachten. Im Übrigen hätte selbst dann, wenn in einer bislang nicht getroffenen Endentscheidung der EGMR eine Rechtsverletzung feststellen würde, was schon mangels entsprechender Kompetenz des EGMR ausgeschlossen erscheint, dies lediglich zur Folge, dass der dann zu Unrecht Abgeschobene eine Entschädigung verlangen kann. Also im Vergleich eine Kleinigkeit, wenn so dauerhaft ein aus Sicht deutscher Behörden und Gerichte drohendes Attentat in Deutschland verhindert werden kann. Es hätte also trotz der Entscheidung des EGMR abgeschoben werden können und im Interesse der inneren Sicherheit auch abgeschoben werden müssen.
Da es sich nur um eine vorläufige Entscheidung handelt, also noch nicht einmal die Frage entschieden ist, ob die Beschwerde überhaupt zulässig, geschweige denn begründet ist, wird nun in einem nächsten Schritt der EGMR im vorläufigen Verfahren entscheiden, ob tatsächlich ein Abschiebungshindernis vorliegt. Abhängig vom Ergebnis könnte er die Beschwerde zulassen oder als unzulässig ablehnen. Ebenso besteht die Möglichkeit, dass das Verfahren auch in der Hauptsache geführt wird und der EGMR das Abschiebehindernis für die Dauer des Verfahrens feststellt.
Verwirklicht sich in dieser Zeit die von dem Gefährder ausgehende abstrakte Gefahr, entsteht rechtlich eine neue interessante Fragestellung, nämlich ob dann auf nationaler oder europarechtlicher Ebene Schadensersatzansprüche der Opfer und ihre Hinterbliebenen bestehen, weil die Abschiebung nicht konsequent umgesetzt worden ist.